Es ist ein normaler sommerlicher Vormittag in Beijing. Um 7 Uhr beginnen in einem Wohnviertelpark namens "Ban Yue Yuan" im Bezirk Shijingshan die sporttreibenden Bewohner, begleitet vom Vogelzwitschern, ihren Tag. In dem kleinen Park versammeln sich morgens im südlichen und nördlichen Teil immer zahlreiche Menschen, die alle die gleichen Bewegungen einstudieren.
"Ich übe Taijiquan normalerweise vormittags von 7 bis 8 oder auch 9 Uhr. Es ist eine gute Übung, es fördert sowohl das Gedächtnis und dient auch der Regulierung der Ausgewogenheit."
"Nach dem Üben fühle ich mich immer ganz entspannt. Ich habe dann viel Kraft für den Alltag."
Was sie üben, ist das traditionelle chinesische Schattenboxen Taijiquan. Vor zwei Jahren hat sich die Beijinger Stadtregierung anlässlich der Austragung der Olympischen Spiele 2008 für die Förderung des Breitensports ausgesprochen. Um diese Vorgabe zu erfüllen, hat die Verwaltungskommission des Wohnviertels nun für die Bewohner einen Kurs zur praktischen Einführung in Taijiquan organisiert. Ein Lehrer ist verantwortlich für diesen Kurs und lehrt die Bewegungen des Taijiquan. Die Teilnehmerzahl des Kurses ist von anfangs weniger als zehn auf mittlerweile über 30 gestiegen. Cheng Lianzhong, der Leiter des Kurses, sagte dazu, er habe nach der Pensionierung mit dem Taijiquan begonnen. Jetzt übe er aber nicht nur selbst, er unterrichte auch andere, so Cheng weiter.
"Für Senioren sind weder Hopsen noch Springen geeignet. Im Vergleich dazu ist Taijiquan mit seinen sanften und fließenden Bewegungen eine geeignete Entspannungsmethode, auch für Senioren. Nach der Pensionierung habe ich damit begonnen, Taijiquan zu üben. Seitdem ist mein körperlicher Zustand immer besser geworden. Außerdem fühle ich mich richtig fit. Deshalb übe ich immer sehr gerne Taijiquan."
Taijiquan kann in China mehrere Jahrhunderte lange zurückverfolgt werden und ist auf dem altchinesischen Buch "Yi Jing" aufgebaut. In der Antike verbanden die Chinesen mit Taijiquan aus philosophischer Sicht vor allem die Einheit der komplementären Polaritäten, also der sich ergänzenden Gegensätze Y?n und Yáng. Y?n und Yáng vereinigen sich am Gipfel, eben im Tàijí. Damit drückt Tàijí aus, dass alle Dinge in der Welt letztendlich in Harmonie zueinander stehen und dass auch scheinbare Gegensätze aus demselben Ursprung hervorgehen. In dieser philosophischen Betrachtungsweise wird der Begriff Taiji als Kurzform für die Kampfkunst Tàijíquán verwendet.
Die Bewegungen im Taijiquan erscheinen zwar leicht und gelassen, aber durch die speziellen Anforderungen an Hüfte, Kiefer, Rücken und Schulter ist es doch auch etwas anstrengend. Zudem wird im Taijiquan großer Wert auf das Trainieren des "Qi" gelegt. Damit ist der innere Energiefluß eines Menschen gemeint. Dies ist auch eine Besonderheit des Taijiquan als Kampfkunst. Dank der praktischen Übungen dient Taijiquan zudem der Bewältigung alltäglicher (Bewegungs-) Probleme und führt außerdem zu mehr Gelassenheit im Umgang mit Stress.
In den vergangenen Jahren hat sich Taijiquan in China schnell entwickelt. Landesweit gibt es zahlreiche Anhänger dieser Kunst. Jedes Jahr finden zudem in allen Provinzen und Städten Chinas verschiedene Aufführungen und Wettbewerbe in Taijiquan statt. Die 74-jährige Wang Baozhen lehrt Taijiquan in einem eigens eingerichteten Kurs im Bezirk Haidian im Westen der Stadt. Sie praktiziert Taijiquan bereits 35 Jahre lang und wurde auch oft ins Ausland zu speziellen Taijiquan-Vorführungen eingeladen. Dabei hat Wang Baozhen festgestellt, dass auch viele Ausländer diese traditionellen Übungsformen gerne trainieren. Über ihre ausländischen "Schüler" sagt Wang Baozhen:
"Ich weiß nicht genau, wie viele ausländische Freunde bei mir Taijiquan gelernt haben. Sie kommen aus verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, Großbritannien, Ungarn, Bulgarien, Algerien, Thailand und Brasilien."
Amelia Hapsari aus Indonesien hat während ihres Aufenthaltes im Friendship-Hotel Wang Baozhen kennengelernt. Obwohl die Indonesierin mittlerweile im Stadtzentrum wohnt, kommt sie weiterhin regelmäßig jede Woche zu Frau Wang, um Taijiquan zu lernen.
"Ich finde, dass die Bewegungen im Taijiquan einen tiefen Sinn haben. Die Chinesen haben in jede einzelne Bewegung des Taijiquan die Bedeutung der Natur im Alltagsleben sowie den Sinngehalt der Beziehung zwischen Mensch und Natur miteinbezogen. Zudem fließt ins Taijiquan die Weisheit der chinesischen Nation mit ein. Deshalb verfügt Taijiquan über eine große Anziehungskraft für mich. Meiner Meinung nach liegt das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in der modernen Gesellschaft ziemlich weit auseinander. Wir schenken der Natur nicht mehr genügende Aufmerksamkeit. Im Vergleich dazu sind die Natur und ich durch Taijiquan zu einer Einheit geworden. Alles in allem habe ich Taijiquan als einen Teil der chinesischen Kultur sehr zu schätzen gelernt."
Gegenwärtig üben viele Menschen weltweit, sei es in Europa, Amerika, Südostasien oder auch Japan, Taijiquan aus. Schätzungen zufolge sind alleine in den USA bereits mehr als 30 Bücher über Taijiquan veröffentlicht worden. In vielen Ländern wurden entsprechende Verbände gegründet, die aktiv mit China Kontakte pflegen und Veranstaltungen organisieren.
Die chinesische Gesundheits-, Bildungs- und Sportbehörden betrachten Taijiquan weiterhin als besonderes Schwerpunktprojekt. Durch die Veröffentlichung von Millionen von Büchern und Bildern ist diese traditionelle chinesische Übungsform wieder verstärkt gefördert worden. Dies dient dazu, die traditionelle chinesische Kultur landesweit sowie auf der ganzen Welt zu verbreiten. Mitteleweile sind in vielen Beijinger Parkanlagen, Straßen und Sportstätten zahlreiche Übungsplätze für Taijiquan zu sehen. Sowohl Stadtbewohner als auch Touristen können sich jederzeit für einen Kurs anmelden. Wenn Sie also in Beijing die Olympischen Spiele besuchen sollten, können Sie auch persönlich den Zauber des Taijiquan miterleben!