Vergangenen Woche haben wir bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris eine kleine Pause eingelegt. Jetzt gehen wir zurück. Es ist Samstag, der 12. Juli 1924 und heute steht das Finale des Querfeldeinlaufs über 10.650 Meter an. Es wird das härteste Rennen dieser Spiele werden, denn schon morgens kündigt sich dieser Tag als wolkenloser Sonnentag an. Auf der Strecke entlang der Seine gibt es keinen Schatten und als das Rennen gestartet wird, herrschen bereits 45 Grad Celsius. Die Strecke führt durch kniehohes Unkraut und den Athleten machen die Abgase verschiedener Kraftwerke am Seine-Ufer zu schaffen. Das Rennen wird sowohl als Einzelrennen als auch als Mannschaftssportart gewertet, selbstverständlich sind die finnischen Stars am Start. Ritola und Nurmi kämpfen gegeneinander und gemeinsam für Finnland. 38 Sportler gehen an den Start. Auch Edvin Wide, der Schwede, den wir in der vergangenen Sendung schon kennen gelernt haben, will mal wieder versuchen, Nurmi und Ritola das Leben schwer zu machen. Und wieder geht der Schwede das Rennen schnell an. Nach 4,5 Kilometern muss er den Bedingungen Tribut zollen, Nurmi und Ritola, denen die Hitze wenig auszumachen scheint, übernehmen die Führung. Je näher das Ziel kommt, desto deutlicher wird Nurmis Vorsprung. Am Ende geht Nurmi eine Minute vor Ritola über die Ziellinie, Nurmi wirkt kaum erschöpft. Von den 38 Startern kommen überhaupt nur 15 nach diesem mörderischen Lauf ins Ziel, acht müssen sogleich ins Krankenhaus gebracht werden und die beiden Finnen warten lange auf die weiteren Starter. Vor allem hoffen sie, dass ein weiterer Finne ins Ziel kommt, denn dann können sie auch die Mannschafts-Goldmedaille mit nach Finnland nehmen. Aber unter den völlig entkräfteten Läufern, die sich ins Ziel quälen, ist lange kein Finne, endlich kommt Heikki Liimatainen in Sicht, das Mannschaftsgold im Querfeldeinlauf ist Finnland sicher. Ritola hat in der Einzelwertung seine zweite Silbermedaille bei diesen Spielen errungen. Und es steht noch ein Wettbewerb aus. Die 3.000-Meter als Mannschaftswettkampf. Das Rennen findet nur einen Tag nach dem zehrenden Querfeldeinlauf statt. Einige Läufer erholen sich von den Strapazen noch im Krankenhaus, Nurmi und Ritola gehen erneut an den Start. Die USA, Großbritannien und Frankreich stellen die anderen Teams. Aber nur der Joie Ray gibt den Amerikanern zunächst Grund zur Hoffnung. Er hängt sich an Nurmi, der schon nach einem Kilometer die Führung übernommen hat, muss aber zu Beginn der letzten Runde, den Finnen ziehen lassen. Nurmi gewinnt, Ritola wird zweiter und Elias Katz, der dritte Finne, kommt schließlich als Fünfter ins Ziel. Finnland gewinnt Gold, es ist Ritolas vierte Goldmedaille bei diesen Spielen. Ritola hat die unglaubliche Zahl von acht Rennen in acht Tagen absolviert. Dabei hat er vier Goldmedaillen und zwei Silbermedaillen gewonnen. Bei jeden anderen Olympischen Spielen wäre Ritola damit ein Held gewesen, aber 1924 in Paris gab es eben Nurmi und der hatte fünf Goldmedaillen gewonnen. In den Jahren bis 1928 blieb Ritola ausgesprochen erfolgreich. Da er in USA lebte, nahm er nie an den finnischen Meisterschaften teil, dafür versetzte er die Amerikaner in Staunen. Über die sechs Meilen wurde er 1927 amerikanischer Meister, über die zehn Meilen war er 1922, 1923, 1925, 1926 und 1927 erfolgreich und auch im 2.000-Yards-Hindernis-Lauf gewann Ritola den amerikanischen Meistertitel dreimal. Im Querfeldeinlauf wurde er fünfmal amerikanischer Meister. Topfit konnte Ritola schließlich 1928 zu den Olympischen Spielen nach Amsterdam reisen. Hier wartete wieder kein geringerer als Paavo Nurmi auf ihn. Diesmal trafen die beiden schon im 10.000-Meter-Lauf aufeinander, denn der finnische Verband hatte Nurmi anders als 1924 auch für diese Disziplin gemeldet. Für den 10.000-Meter-Lauf gab es keine Vorläufe, gleich am ersten Tag der Spiele ging es in die Vollen. Joie Ray aus den USA versuchte, das Rennen an sich zu reißen und legte ein schnelles Tempo vor. Aber Nurmi und Ritola hielten Schritt. Nach 1.500 Metern übernahm Ritola die Führung, dicht gefolgt von Nurmi und einem weiteren alten Bekannten, dem Schweden Wide. Nach der Hälfte des Rennens hat die Führungsgruppe bereits 100 Meter Vorsprung, nach 6.500 Metern muss Wide nachlassen. Nun ist das Rennen nur noch ein Duell zwischen Nurmi und Ritola. Ritola führt, aber Nurmi lässt sich nicht abhängen. Als die beiden auf die Zielgerade einbiegen, liegt Ritola immer noch vorn, aber Nurmi greift auf der Außenbahn an, Ritola will gegenhalten, aber er kann Nurmis Sprinttempo nicht mitgehen. Bis zum Ziel läuft Nurmi zweieinhalb Meter gegenüber Ritola raus, Ritola gewinnt Silber, wieder einmal muss er sich Nurmi geschlagen geben.
Über die 1.500 Meter hat sich Nurmi sich nicht qualifiziert, also entschließt er sich kurzerhand, am Vorlauf des 3.000-Meter-Hindernislaufs teilzunehmen. Auch Ritola startet in diesem Vorlauf. Die beiden fliegenden Finnen verletzten sich bei der Überwindung der Hindernisse, qualifizieren sich aber. Allerdings treten sie zuvor, zwei Tage nach dem schmerzhaften Hindernislauf-Vorlauf, über die 5.000 Meter gegeneinander an. Ville Ritola hat eine Bänderdehnung im Knöchel, Nurmi hat sich die linke Hüfte so gestaucht, dass er sie fast nicht mehr spürt. So gehen sie an den Start. Nach zwei Runden setzt sich Nurmi an die Spitze, Ritola folgt, aber er humpelt. Das Feld kann folgen. Denn Nurmi und Ritola sind in diesem Rennen nicht so schnell. Nach der Hälfte des Rennens übernimmt Ritola die Führung, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Einen Kilometer haben sie noch vor sich und der Schwede Edvin Wide und Leo Lermond aus den USA wittern ihre Chance. 600 Meter vor dem Ziel setzt Ritola allerdings zum Sprint an, nur Nurmi geht mit. Jeder rechnet nun mit einem Angriff Nurmis und auf der Zielgeraden kommt der auch. Aber Ritola wehrt sich, zur Überraschung aller beschleunigt er noch mal, er kann sich von Nurmi absetzen und gewinnt ein weiteres Mal Gold bei den Olympischen Spielen. Nurmi muss sogar noch um Silber kämpfen, denn Wide ist nah an ihn heran gelaufen, aber Nurmi siegt mit einem Meter Vorsprung. Die beiden Finnen lecken nach dem Rennen ihre Wunden. Sie wirken sehr erschöpft, ein ungewohnter Anblick.
Am Tag darauf steht das Finale des 3.000-Meter Hindernis-Laufs an. Die beiden Rivalen treten zwar an, rechnen aber nicht mit großen Erfolgen, ihre Verletzungen und der 5.000?Meter-Lauf haben sie ausgezehrt. Ritola kann auch nicht mehr in die Medaillen laufen. Dank einer ausgezeichneten Taktik des Teams gewinnen dennoch drei Finnen die Medaillen, Nurmi holt Silber. Für Ville Ritola waren die Spiele 1928 sein Abschied von Spitzensport, mit fünf Olympischen Gold- und drei Silbermedaillen trat er ab. Er lebte weiterhin in den USA, allerdings wurde der Ruf der Heimat im Alter von 75 Jahren so stark, dass er nach Finnland zurückkehrte. 1982 starb er im Alter von 86 Jahren in Helsinki.
Ritola ist ein gutes Beispiel dafür, dass oft nicht nur die eigene Leistung, sondern auch die Zeitumstände entscheidend sind. Hätte auf Ritola nicht immer der Schatten des herausragenden Nurmi geruht, würde er heute sicherlich in jeder Aufzählung großer Olympioniken auftauchen.