Wer die großen Namen der Olympischen Spiele zusammenträgt, begegnet immer wieder einem Mann, dem ersten Olympiasieger aus Afrika, Abele Bikila.
Sein Auftritt bei den Spielen 1960 in Rom, der ihn in wenigen Stunden weltberühmt machen sollte, mutete antik an, fast schon ein wenig mysthisch. Aufgrund der sommerlichen Hitze in Rom wurde der Marathonlauf von Rom nämlich abends gestartet, Soldaten waren mit großen Fackeln entlang der Strecke postiert, um sie in ein sanftes Licht zu tauchen. Der Lauf bekam dadurch eine außergewöhnliche Atmosphäre - und in genau dieser Stimmung startete Abebe Bikila, der lange schlaksige Afrikaner - barfuss. Ernst nahmen ihn die Zuschauer nicht, aber sie mochten ihn. Die Italiener nannten ihn "einen aus unserer alten Kolonie" und riefen ihm zu, dass dabei sein doch alles sei. Er würde sie zum Schweigen bringen, barfuss. Denn, in schnellen kurzen Schritten lief Bikila völlig gelassen an den Symbolen der Antike vorbei und ließ das Feld weit hinter sich. Schließlich wurde der olympische Marathon zum Zweikampf, Bikila gegen den Marokkaner Rhadi Ben Adbesselem. Aber Bikila setzte sich durch und gewann in neuem Weltrekord von 2:15:16 Stunden mit 200 Metern Vorsprung. Die Welt hatte einen neuen Helden. Für Bikila war sein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, in den Farben seines Landes einmal Äthiopien bei den Olympischen Spielen zu repräsentieren und dann auch noch so erfolgreich. Auf die Frage, warum er barfuss gelaufen sei, gab er eine Antwort, die eines Helden würdig ist: Er habe der Welt zeigen wollen, dass sein Land Äthiopien stets durch Entschlossenheit und Heldentum gesiegt habe.
Es gibt noch eine andere sehr viel profanere Erklärung für seinen Lauf ohne Schuhe, allerdings ist die nicht halb so schön. 1957 hatte ein Ausrüster viel Überredungskunst gebraucht, um Bikila, der bis dahin nie mit Schuhen gelaufen war, zu überzeugen, dass er Schuhe tragen solle. Erst das Argument, dass bei seinem Marathon in Mainichi in Japan auf den Straßen vielleicht Glasscherben liegen könnten, zeigte Wirkung. Bikila gewann den Marathon - seitdem trug er freiwillig Schuhe. In Rom 1960 merkte er allerdings, als er seine Schuhe anziehen wollte, dass die neuen Schuhe zu eng waren. Bevor er sich Blasen holen würde, vertraute er lieber auf seine Füße und trat barfuss an. Wer aber war der Mann, der so fulminant in dem Land gesiegt hatte, das sein Heimatland 30 Jahre zuvor besetzt hatte?
Abebe Bikila wurde am 7. August 1932 in Jato, 130 Kilometer von Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens entfernt, auf 2.400 Metern Höhe geboren. Am selben Tag liefen, Tausende von Kilometern von Jato entfernt, Olympioniken den Marathon der Olympischen Spiele von Los Angeles - vielleicht war das ein Omen, so wie auch Abebes Name, denn der bedeutet "knospende Blume". Abebe wuchs gemäß den Traditionen auf, als Kind hütete er Ziegen und besuchte die traditionelle Qes Schule, die er mit zwölf abschloss. Schon in der Schule hatte er sich als hervorragender Gena-Spieler hervorgetan. Gena ist das äthiopische Hockey. Der Legende nach haben die Hirten dieses Spiel in der Nacht, in der Jesus geboren wurde, gespielt.
Mit 20 Jahren wird Abebe für die kaiserliche Palastwache ausgewählt. Hier beginnt er mit der Leichtathletik. Als er eines Tages die äthiopische Olympia-Mannschaft im Palast sieht, entwickelt sich sein Traum, eines Tages will er mit dem Schriftzug seines Landes auf dem Rücken in einem Sportoutfit sein Land repräsentieren. Er trainiert hart und unermüdlich. 1956 stürzt er bei den Militärmeisterschaften den äthiopischen Nationalhelden, indem er über 5.000 und 10.000 Meter einen neuen Landesrekord aufstellt und auch den Marathon gewinnt. Er qualifiziert sich für die Olympischen Spiele in Rom 1960 und triumphiert. Sein Trainer Olli Niskanen, ein Finne, der die kaiserliche Leibgarde fithält, sagt: Abebe ist nie müde, nach dem Rennen trinkt er ein Glas Wasser - das reicht ihm.
Sein Sieg in Rom verhilft ihm zur Beförderung, von nun an ist er Leutnant. Aber er will wieder zu den Olympischen Spielen, er will nach Tokio. Sechs Wochen vor dem Marathonlauf von Tokio sieht es allerdings ganz und gar nicht danach aus. Abebe hat eine schwere Blinddarmentzündung und muss operiert werden. Noch in der Rekonvaleszenz reist er zu den Spielen an und beginnt wenige Tage später wieder mit dem regulären Training. Die Fans jubeln ihm zu, das motiviert ihn zusätzlich, und er tritt an, diesmal in Schuhen. Noch nie hat ein Athlet den olympischen Marathon zweimal in Folge gewinnen können, Abebe kann es. Und nicht nur das, er läuft erneut einen Weltrekord, in 2:12:11 hat er die Strecke hinter sich gebracht. Im Ziel wollen ihm Krankenschwestern Decken reichen, er lehnt entrüstet ab und beginnt mit einer seltsam anmutenden Gymnastik. Es wirkt, als sei er gerade spazieren gewesen. Bei der Siegerehrung kennen die japanischen Musiker die äthiopische Nationalhymne nicht, obgleich Bikila ja schon vier Jahre zuvor in Rom gewonnen hat, sie spielen die japanische Hymne, als die Flagge gehisst wird. Und dennoch wird Bikila nach diesem Lauf niemand mehr vergessen.
Und auch in Mexiko City 1968 tritt er beim Marathon der Spiele an, allerdings muss er diesmal nach 15 Kilometern aufgeben, ihm geht es gesundheitlich schlecht. Mit Mamo Wolde gewinnt ein Landsmann.
Zurück in der Heimat bewahrt ihn seine Bekanntheit bei einem versuchten Staatstreich davor, wie der Rest der Palastwache getötet zu werden, diesmal hat er Glück.
Für seinen Sieg beim Marathon 1964 hat ihm sein Heimatland einen Volkswagen geschenkt. Tragischerweise ist er mit diesem Wagen 1969 in einen schweren Autounfall verwickelt. Diesmal hat er kein Glück. Denn von da ab ist dieser Ausnahmeathlet, der Afrika auf die Weltkarte des Sports gesetzt hat, von der Hüfte abwärts gelähmt. Er erträgt sein Schicksal mit der gleichen Würde, mit der er seine Rennen gewonnen hat, ich darf nicht traurig sein, wenn Gott es so gewollt hat, sagt er. Kurz vor seinem Tod kann der Mann, der in seiner Karriere 26 Marathons gewonnen hat, seinen Kopf kaum mehr bewegen. Er stirbt am 25. Oktober 1973 an den Folgen eines Schlaganfalls. Anlässlich seiner Beerdigung schreibt der Dichter Taddele G Hiwot ein ergreifendes Gedicht. Als sein Sarg sich schließlich in die Erde senkt, ist auch Kaiser Haile Selassie anwesend.