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Die deutsche Literatur war schon vor knapp hundert Jahren dem chinesischen Volk bekannt. Lu Xun, der Begründer der modernen chinesischen Literatur, konnte deutsch und hatte Anfang des vergangenen Jahrhunderts viele chinesische Leser mit deutschen Texten bekannt gemacht.
Gebildete chinesische Jugendliche diskutierten damals über den Charakter von Werther, der Hauptfigur in Johann Wolfgang von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers". Sie fanden, dass sie selbst das gleiche Schicksal wie Charlotte erleiden würden - die Unterdrückung durch den Feudalismus. Der hervorragende chinesische romantische Dichter Guo Moruo war es, der diesen berühmten Roman - ein repräsentatives Werk der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts - aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzte und dadurch auf große Sympathie stieß.
In den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts übersetzte Guo Moruo einige lyrische Gedichte von Goethe ins Chinesische, die dann großen Einfluss auf chinesische Schriftsteller ausübten.
Außerdem übersetzte Guo Moruo große klassische Dramen von Friedlich von Schiller, zum Beispiel die Wallenstein-Trilogie, aber auch "Immensee" von Theodor Storm. "Immensee" fand übrigens, wie "Die Leiden des jungen Werthers" von Goethe, wegen des aktuellen Bezugs zum Kampf gegen den Feudalismus und wegen der vollendeten Form bei vielen jungen Lesern starken Widerhall. "Immensee" wurde später von dem berühmten chinesischen Roman-Schriftsteller Ba Jin noch einmal neu übersetzt.
Während der Zeit des Widerstandskrieges des chinesischen Volkes gegen die japanische Aggression (1937 bis 1945) wurde dann Goethes "Faust", von Guo Moruo übersetzt und veröffentlicht. Das war ein großes Ereignis in der Geschichte des chinesisch-deutschen Kulturaustausches.
Erst nach Gründung der VR China wurde der Büchervertrieb systematisch angegangen, wurden Werke der deutschen Literatur in den Verlagsplan eines staatlichen Verlages aufgenommen. Es ging darum, eine neue Volkskultur zu entwickeln, die man aber nur entwickeln konnte, wenn man von der Weltliteratur, also auch von der deutschen Literatur, lernte. An Universitäten und Hochschulen konnte man Germanistik studieren. Viele der damaligen Studenten sind heute auf Übersetzungen deutscher Literatur spezialisiert.
Während vor der Gründung der VR China einige deutsche Literaturwerke nicht direkt aus dem Original, sondern nur über Umwege einer zweiten oder dritten Sprache übersetzt werden konnten, wurden im Gegensatz dazu nach Gründung der VR China die meisten Werke direkt aus dem deutschen Originaltext übersetzt. Das hat selbstverständlich zu einer eindeutig qualitativen Verbesserung geführt.
Nach Gründung der VR China wurden Werke von Goethe, Schiller, Heinrich Heine und von anderen deutschen Schriftstellern planmäßig herausgegeben. Dazu zählten die von Guo Moruo verbesserten Übersetzungen von "Faust", "Die Leiden des jungen Werthers" und "Wallenstein". Außerdem brachte man Märchen der Gebrüder Grimm sowie das Epos "Nibelungenlied" auf die Bühne, ebenfalls auch Werke moderner deutscher Schriftsteller.
Mitte der sechziger Jahre bis Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, also während der Kulturrevolution, war die Entwicklung der Kunst und Literatur Chinas in Stillstand geraten.
Damals wurde alles Ausländische verboten. Ausländische Bücher und somit auch Übersetzungen aus dem Deutschen wurden nicht mehr vertrieben.
Seit Beginn der Reform und Öffnung Ende der 70er Jahre begann man wieder mit Übersetzungsarbeiten.
Um den dringenden Bedarf an ausländischer Literatur zu decken, wurde eine Anzahl alter Übersetzungsarbeiten von weltbekannten Werken wieder herausgegeben, darunter "Faust", "Wilhelm Tell", "Kabale und Liebe", "Ausgewählte Gedichte" von Heine, "Ausgewählte Märchen" von den Gebrüdern Grimm und die "Buddenbrooks" von Thomas Mann.
Im Zuge der Reform und Öffnung Chinas ist der Kulturaustausch zwischen China und Deutschland von Tag zu Tag intensiviert worden. Dies geschieht natürlich auch im Literaturbereich. Heutzutage sind auf dem chinesischen Büchermarkt nicht nur klassische deutsche Literatur, sondern auch Werke der Gegenwartsliteratur erhältlich. Dazu Germanistikprofessor Ren Guoqiang:
"Zum Beispiel ist Judit Hermann sehr gefragt, die hervorragende deutsche Schriftstellerin, die zur Zeit in Deutschland auch sehr populär ist. Wir werden in diesem Jahr ihr zweites Buch "Nichts als Gespenster" ins Chinesische übersetzen. Ihr Erstlingswerk "Sommerhausstädte" ist bereits ins Chinesische übersetzt worden. Das ist Beweis dafür, dass nicht nur klassische deutsche Literaturwerke ins Chinesische übersetzt worden ist, sondern auch die Literatur der Gegenwart rechtzeitig ins Chinesische übersetzt wird."
Wie ist die Situation der Rezeption deutscher Literatur in China im Vergleich zu anderer fremdsprachigen Literatur? Dazu noch einmal Professor Ren Guoqiang:
"Im Vergleich zur englischen, russischen und japanischen Literatur ist die Rezeption deutscher Literatur in China nicht ganz so intensiv. Aber es gibt immer mehr chinesische Wissenschaftler, die sich mit Germanistik beschäftigen. In diesen Jahren ist die Tendenz immer deutlicher erkennbar, dass immer mehr deutsche literarische Werke ins Chinesische übersetzt werden.
Andererseits haben die Chinesen den Eindruck, daß deutsche Romane schwer zu verstehen sind und bedrücken, weil immer versucht wird, über ein Thema zu diskutieren, und zwar mehr oder weniger auf philosophischem Niveau. Dadurch entstand dieses Klischee. Aber in diesen Jahren gibt es immer mehr literarische Werke, die die deutsche Tradition weiter entwickeln. Das heißt, dass es sich um ein ernstes Thema handelt, über das man dann diskutiert. Zum Glück jedoch gibt es immer mehr Werke, die unterhaltsam geschrieben sind. Deswegen wird sich dieses Klischee mit der Zeit langsam verändern. Das lässt auch hoffen, dass sich die chinesische Leserschaft dadurch vergrößert. Dies bestätigen auch Verlage und andere Fachleute."
Xu Chang, Germanistin an der Peking-Universität, bestätigt, dass sich eine feste Lesergruppe an der deutschen Literatur erfreut:
"Es gibt in China eine kleine Lesergruppe, die der deutschen Literatur stets treu bleibt. Diese Gruppe hält die deutsche Literatur für tiefsinnig und schreibtechnisch einzigartig, die die Leser zum Nachdenken anregt."
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