Wenn sich die meisten Landwirte nach der Herbsternte endlich ausruhen können, beginnt für Lu Enhua (49) die anstrengende Jahreszeit erst.
Nebenberuflich führt Lu zusammen mit vier anderen Bauern Schattenspiele auf. Der Schattenspieltrupp wandert den langen Winter durch Dörfer in Lius Heimatkreis Xiuyan in der Provinz Liaoning.
Es ist ein seit Jahrhunderten überliefertes Ritual für Bewohner im Kreis Xiuyan, im Frühling Wünsche zu äußern. Gehen diese in Erfüllung, wird ein Schattenspielensemble nach Hause eingeladen, um die Familie zu unterhalten und den Göttern zu danken.
Oft erhält Lus Trupp so viele Einladungen, dass sie an einem Tag mehrere Aufführungen abhalten müssen. Sein Terminplan ist bis zum Frühlingsfest, dem Neujahr nach dem chinesischen Mondkalender, gefüllt. Nach drei Tagen Pause zum Frühlingsfest machen sich die Schattenspieler dann wieder auf den Weg. Erst wenn der erste Mondmonat zu Ende ist, hören die Aufführungen auf. Denn dann muss man sich auf die Frühjahrsbestellung der Felder vorbereiten. Es werden neue Wünsche gemacht und wenn sie in Erfüllung gehen, erhält Lu gegen Ende Herbst wieder Einladungen zu Danksagungsaufführungen.
„Ich habe beschlossen, ein Puppenspieler zu werden, als ich mit 14 Jahren von dem Schattenspieldrama und dessen Musik angezogen wurde", erinnert sich Lu Enhua.
In Xiuyan braucht eine Schattenspielaufführung fünf Leute. Sie errichten die Bühne, singen, spielen Musikinstrumente und vor allem bewegen sie die Schattenfiguren, die Lu selbständig in Handarbeit aus Eselshaut herstellt.
Im Schattenspiel in Xiuyan geht es um Legenden und Heldengeschichte. Mit Sihu (viersaitige Spießgeige), Banhu (zweisaitige Spießgeige), Suona (Schalmei), Trommel und Gongs wird Begleitmusik gemacht, deren Melodien hauptsächlich aus traditionellen chinesischen Opern entstammen.
Schattenspiel wurde im Zeitraum zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert nach Xiuyan gebracht, als Flüchtlinge wegen Dürre und Plage ihre Heimat in Zentralchina verlassen mussten und in der Mandschurei nach Glück suchten. Vieles hat sich angepasst oder verändert, bis das Schattenspiel-Genre in der Mandschurei Wurzeln schlug. Lokale Musik, wie Dangu oder Errenzhuan, hat sich zum Beispiel mit der zentralchinesischen Opernmelodie gemischt. Doch eine Eigenschaft hat das Schattenspiel nicht verloren: Weibliche Figuren werden von Männern gesungen. „In anderen Regionen werden weibliche Figuren von Frauen gespielt. In Xiuyan treten nur männliche Schauspieler hinter die Kulisse", erklärt Lu Enhua.
Nur wenige Wege und Straßen führen von dem hügeligen Kreis zur Außenwelt. Traditionelle Kunstformen wie Schattenspiel und Scherenschnitte bleiben hier gut erhalten. Das Schattenspiel wurde 2011 von der UNESCO zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit ernannt. Trotzdem macht sich Lu Sorgen darum, dass das Schattenspiel langsam seine Popularität verliert: „Vor 20 Jahren konnte dich immer jemand im Publikum auf deine Fehler hinweisen, wenn etwas mit der Musik, Lyrik oder Aufführung nicht stimmte. Heute tut das fast niemand, auch wenn es ein offensichtlicher Fehler ist."
Schattenspiel wurde während der Kulturrevolution (1966 bis 1976) verboten. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre war Schattenspiel fast die einzige Unterhaltungsform. Jeden Abend wurden langandauernde Dramen aufgeführt. Ein vollständiges Stück konnte bis zu zwei Wochen dauern, jeden Abend führte man eine Folge auf, die drei bis vier Stunden dauerte. „Wer hat heute noch die Zeit für so ein langes vollständiges Stück?" Lu führt abends nur ausgewählte Auszüge aus langwierigen Dramen auf. Große Kopfschmerzen bereitet ihm die Suche nach Nachwuchs, denn immer mehr junge Leute wandern aus den Dörfern ab. In den Großstädten erwarten sie besser bezahlte Jobs und begeisternde Unterhaltungsformen im westlichen Stil…