Die Glühbirne an der Decke schwingt heftig. Schüsseln fallen auf den Boden und zerbrechen. „Erdbeben!" schreiend stolpert Chen Yuanyuan, 23, ins Schlafzimmer, wo ihre einjährige Tochter schläft. Chen hält ihr Baby fest in den Armen und rennt mit ihrem Mann auf die Straße, wo viele Nachbarn vor Angst zittern. „Es war, als würde ich den Alptraum wieder erleben", erinnert sich die junge Mutter an das verheerende Beben vor fünf Jahren. „Diesmal noch schrecklicher!"
Häuser schwingen zwei Minuten lang, bevor manche von ihnen zusammenbrechen. Telefonkabel springen auf dem Boden auf und ab. Straßen voller Menschen, manche nicht angezogen. Schreie der Qual durchbohren die Luft über der abgelegenen Stadt Ya'an in Südwestchina. Es ist der 20. April 2013, kurz nach acht Uhr morgens.
Als Soldaten, Sanitäter, Seismologen und Psychiater nach Ya'an eilen, stellen sie fest: Die Rettungsarbeiten sind viel schwieriger als gedacht. Der hügelige Kreis Baoxing ist durch Erdrutsche von der Außenwelt abgeriegelt. Gesteine so groß wie Autos oder Esstische blockieren die Straße nach Baoxing. Transporte von Hilfsgütern hinein und Verletzten heraus sind in den ersten Stunden nach dem Beben unmöglich. Bergungsleute müssen zu Fuß nach Baoxing, wo ein 40-jähriger Verletzter notoperiert wird – ohne Narkose beißt er auf ein Stück Holz, sein Gesicht verkrampft und kalkweiß. Verkehrsstaus machen die Rettungsarbeiten in Baoxing schwerer. „Die höchste Priorität ist, Tod durch Verbluten zu verhindern. Aber wir haben nicht genug Medikamente", sagt Chirurg Chen Yuyong.
In der Gemeinde Longmen kämpfen Überlebende gegen Angst und Einsamkeit: Chen Fuzhen, 31, übernimmt alle Hausarbeiten, seit ihr Mann als Wanderarbeiter in die Metropole Chongqing ging. Chen muss sich allein um ihre zwei Kinder kümmern. Vor ihrer Familie weint sie nie, denn sie möchte ihnen ihre starke Seite zeigen. Doch die Maske bricht vollständig zusammen, als das Beben ihre Gemeinde verwüstet: „Nie habe ich mich so hilflos gefühlt. Was soll ich tun mit den Kindern?" In Longmen ist Chen keine Ausnahme. Frauen, Kinder, Senioren: Sie alle müssen Trauma und Angst vorerst selbst überwinden. Männer, Väter und Söhne in Hunderte Kilometer entfernten Städten können nicht nach Hause. Straßen sind blockiert, Telefonverbindungen gekappt. „Wenn die Männer zu Hause gewesen wären, hätte es nicht so viele Todesopfer oder Verletzte gegeben", klagt die 31-jährige Zhang Qingqiu. Ihre Nachbarin, ein 12-jähriges Mädchen, hat sich schwer verletzt, als sie ihren zweijährigen Bruder aus den Trümmern rettete.
Als immer mehr Helfer blockierte Straßen befahrbar machen, beruhigt sich die Situation in Ya'an langsam wieder, Verletzte werden in Krankenhäuser geflogen, Trinkwasser und Nahrungsmittel an die Betroffenen verteilt. Stromleitungen werden geflickt, Telefone funktionieren wieder, die Normalität kehrt zurück. Viele Familien finden auch ihre Vermissten.
Der Kanadier Brendan Frentz gibt als ehrenamtlicher Helfer Englisch-Unterricht: „Ich möchte die Kinder von der Tragödie ablenken – durch Singen und Spielen".
Eine Stunde nach dem Beben kommt in einem Lazarett im Epizentrum ein 3,7 Kilo schweres Baby zur Welt. Die Hoffnung wächst.