2012 war das Jahr des Drachens. Nach dem chinesischen Volksglauben das beste Geburtsjahr, denn es bringt Glück und Wohlstand. So erblickten in Beijing zum Beispiel im vergangenen Jahr 200.000 Drachen-Babys das Licht der Welt. Mit diesem Baby-Boom ging ein Mangel an Mütterpflegerinnen einher. Dies hatte zur Folge, dass die Monatsgehälter der professionellen Pflegerinnen im Vergleich zum Vorjahr von 4.000 auf über 10.000 Yuan stiegen. In Großstädten wie Shanghai, Shenzhen und Hongkong brachten die erfahrenen Wochenbetthilfen sogar bis zu 20.000 Yuan pro Monat mit nach Hause. Ein reizvolles Geschäft, das auch den 32-jährigen Li Junning dazu brachte, in die frauendominierte Branche einsteigen zu wollen.
„Ich möchte dadurch mehr Geld verdienen. Ich habe mich hierhin durchgeschlagen. Es könnte mir schlechter gehen, aber es könnte auch besser gehen."
Li Junning stammt aus der zentralchinesischen Provinz Hunan. Nach der Oberschule leistete er den freiwilligen Wehrdienst, schloss die Fachhochschule ab und begann Anfang 2012 einen Job als Optiker in der westchinesischen Metropole Chongqing. Noch im Oktober des gleichen Jahres zog es ihn in die chinesische Hauptstadt. Er hatte von den guten Verdienstmöglichkeiten in der Wochenbetthilfe gehört. Sogleich meldete er sich zu einem Wochenbetthilfekurs an. Die Medien nannten ihn bereits den ersten Mütterpfleger von Beijing.
Chen Jianlin, in ihren Fünfzigern, ist Li Junnings Ausbilderin. Sie genießt in der Branche einen ausgezeichneten Ruf. An einer Puppe demonstriert sie ihren Kursteilnehmern den Kinderpfleger-Alltag. Zunächst stand sie dem jungen Mann mit seinen Ambitionen skeptisch gegenüber:
„Ich fragte ihn, willst du das wirklich machen? Er sagte ja. Ich konnte das nicht glauben und sagte, er könne nach der Ausbildung einen Sanitätsbetrieb in seiner Heimat gründen. Doch als Mütterpfleger zu arbeiten sei nicht sehr realistisch."
Trotzdem absolvierte Li Junning den Kurs mit Erfolg und könnte nun als Mütterpfleger praktizieren. Da der Sanitätsbetrieb, in dem er den Kurs absolviert hat, wie eine Personalleasingfirma arbeitet, ist Li Junning vorerst von dieser Firma mit einem Grundgehalt angestellt. Viele seiner Mitschülerinnen sind bereits nach kurzer Zeit in verschiedene Haushalte geholt worden, Li Junning nicht. So dauerte es nur einen Monat, und die Firmenleitung erwog, den ersten Mütterpfleger der Stadt zu kündigen.
„Vor dem Mittagessen habe ich die Nachricht erhalten. Ich war in der Küche beim Gemüseschneiden. Ich bin ratlos. (Seufz) Ich bin echt deprimiert…"
Seine Ausbilderin Chen Jianlin setzte sich für Li Junning ein und sprach mit der Firmenleitung des Unternehmens. Sie konnte sie tatsächlich von einer Kündigung abhalten. Allerdings muss Li Junning nun zunächst für eine Reinigungsabteilung arbeiten. Dort bekommt er im Monat 2.000 Yuan Gehalt mit Unterkunftsmöglichkeiten. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, Klempner und Putzfrauen zu interviewen und anzustellen. Zudem kümmert er sich um Praktikanten. Li Junning macht sich gut. Zwei Monate später nähert sich das Frühlingsfest und viele seiner Kolleginnen befinden sich bereits im Heimaturlaub. Da geht das Telefon und der Manager ist am Apparat:
„Wie alt ist das Kind? Vier Monate (...) Gut, vielen Dank!"
Ein junges Ehepaar aus Beijing braucht dringend Wochenbetthilfe. Die Familie möchte den einzig verfügbaren Pfleger, Li Junning, gerne einmal ausprobieren. Auf diese Chance hat Li Junning drei Monate gewartet. Er ist aufgeregt und plant einen eventuellen Verzicht auf seine Heimfahrt, falls er die Anstellung bekommen sollte. Seine Kollegen teilen seine Freude:
Schon am nächsten Nachmittag klopft Li Junning an die Tür seines potenziellen Arbeitgebers. Seine Ausbilderin Chen Jianlin ist mitgekommen, um ihn zu unterstützen.
Die Großmutter und der vier Monate alte Junge sind zu Hause. Die Eltern sind auf der Arbeit. Nach einem Gespräch trägt Li Junning den Kleinen geschickt in seinen Armen. Das Kind scheint sich wohlzufühlen. Schnell und geschickt wechselt Li Junning seine Windel und spielt mit dem Jungen. Das alles beeindruckt die Oma. Doch die Entscheidung möchte sie dem Vater überlassen. Li Junning will selbst auf Vater Li Yang warten und mit ihm persönlich sprechen.
Als Li Yang nach Hause kommt, hat der potentielle Pfleger seines Sohnes bereits ein Essen auf den Tisch gezaubert. Der Kleine zeigt in der Situation mehr Zuneigung zu Li Junning als zu seinem Vater, (Atmo 4), denn dieser hat ihn in einer falschen Haltung durch den Raum getragen. Li Yang zeigt sich mit dem tüchtigen Pfleger Li Junning zufrieden. Er sagt,
„Ich finde es nicht verkehrt, dass die Wochenbetthilfe von einem Mann übernommen wird. Zu Beginn hatten wir auch Bedenken, doch wir haben feststellen können, dass er bei der Kinderpflege und Küchenarbeit viel besser ist als einige seiner Kolleginnen. Deshalb wollen wir ihn probeweise anstellen."
Als Li Junning die Familie verlässt, ist es knapp 22 Uhr. In der dreimonatigen Wartezeit hat Li Junning Misstrauen und Argwohn vieler Menschen in Kauf genommen. Er musste mit Beschwerden seiner Frau auskommen. Nun macht ihn die erfolgreiche Vorstellung stolz.
Am nächsten Morgen wiegt er den kleinen Jungen gerade im Arm, als der Großmutter in der Küche beim Geschirrspülen eine Schüssel aus den Händen gleitet. Der Krach reißt das Kind aus dem Schlaf und es bricht in Tränen aus. Das unerwartete Weinen hat etwas in Li Junning bewegt:
„Alles ist gut verlaufen. Doch als das Kind in Tränen ausbrach, hat sich etwas in mir bewegt. In diesem Moment haben sich meine Ansichten geändert. Ich fragte mich, ob mein eigenes Kind jetzt wohl auch schreien würde – und warum ich dann hier bin? Jeder hat nur ein Leben. Wie viel Geld muss man verdienen? Meine Kinder sehe ich nur einmal groß werden. Sie haben nur eine Kindheit, in der ich als ihr Vater da sein sollte."
So hat der Schrei dieses kleinen Jungens die Prioritäten eines Mannes mit einem festen Ziel vor Augen komplett verschoben. Li Junning hat in dieser Sekunde gemerkt, was ihm eigentlich wichtig ist: Nämlich seine eigenen Kinder und seine Familie. Jetzt wird er zu ihnen zurückkehren. Und Beijing wird wohl weiter auf seinen ersten praktizierenden Mütterpfleger warten müssen.
Text: Li Zheng