Jia Pingwa entstammt einer Bauernfamilie und wurde 1952 in einem Dorf im Kreis Shangluo in der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi geboren und gehört zu den namhaftesten zeitgenössischen Romanciers und Erzählern in China. In seinen Werken verbinden sich traditionelle und moderne Elemente sowie harter Realismus und schwerelose Fiktion. Seine Sprache ist so einfach und ungekünstelt, dass Lesern mitunter der Atem stockt.
In den 1970er Jahren begann Jia Pingwa zu schreiben, er schilderte das bäuerliche Leben in Nordwestchina. Im Unterschied dazu war der Roman „Fei Du" („Die verlassene Hauptstadt") Jia Pingwas erstes Werk über das urbane Leben städtischer Intellektueller jener Zeit.
Dieser Roman wurde in chinesischen Literatenkreisen schnell als moderne Version des aus der Ming-Dynastie stammenden erotischen Klassikers „Jin Ping Mei" („Die Pflaume in der Goldvase") verglichen. Der Roman „Die verlassene Hauptstadt" dreht sich um den meist untätigen Intellektuellen Zhuang Zhidie im Xi'an der 1980er Jahre, als in China Modernisierung und Urbanisierung begannen.
Für den Literaturkritiker Professor Li Jingze von der Peking-Universität vermittelt „Die verlassene Hauptstadt" eine sehr feinfühlige Beschreibung der modernen Gesellschaft und insbesondere der Befindlichkeiten von Intellektuellen:
„Wenn wir uns die Geschichte der zeitgenössischen chinesischen Literatur etwas genauer ansehen, dann ist der Roman „Die verlassene Hauptstadt" besonders bemerkenswert. Wie ein Spiegel reflektiert er die Veränderungen im Denken und den Wertvorstellungen der Leute im Gefolge der großen Modernisierungen in China, die offiziell 1992 begannen und für die meisten Menschen einen geistigen Wendepunkt bedeuteten."
Die Erstveröffentlichung des Werkes war von Kontroversen und öffentlichen Diskussionen begleitet, besonders Intellektuelle hatten Einwände gegen die Darstellung des Haupthelden Zhuang Zhidie.
Auch Literaturkritiker Li räumt ein, dass das Bild des Helden vor 20 Jahren merkwürdig gewirkt haben könnte, als Intellektuelle mit ihren Forschungen beschäftigt waren und nicht mit sozialen Beziehungen. Nun aber, 20 Jahre später, sei Hauptheld Zhuang tatsächlich typisch für chinesische Intellektuelle:
„Zhuang Zhidie was sicher vor 20 Jahren ein Einzelfall, heutzutage aber ist er ganz typisch. Überall findet man Leute, die sich genau wie Zhuang Zhidie verhalten. Sie suchen Anerkennung und wollen bekannt werden. So gesehen geht die anfängliche Kontroverse um „Die verlassene Hauptstadt" wohl darauf zurück, dass es Verbindungen zwischen Zhuang Zhidie und uns gibt. Anders gesagt, der Autor zeichnet aus einer einmaligen Sicht ein realistisches Bild chinesischer Intellektueller."
Im Roman wird Zhuang überhöht dargestellt, fast als Legende. Auf ihn treffen schon all die Dinge zu, die heutzutage das Leben einer Berühmtheit in den Städten ausmachen: frei und ungezwungen, widersprüchlich und voller Wissen. Er wird so berühmt, dass sogar die städtischen Machtfiguren in seinen Kreis drängen, damit von seinem Glanz etwas auf sie abfärben möge. Zhuangs ganzes Leben dreht sich um Essen und Trinken mit seinen berühmten Freunden.
Zwei Erzählstränge kreuzen sich immer wieder in dem Roman. Im ersten geht es um Zhuangs vergeblichen Versuch, Freunde vor einem Gerichtsverfahren zu schützen, das vom Opfer eines Brandunglücks gegen sie angestrengt wird. Die zweite Erzähllinie ist viel einfacher und sehr alltäglich, sie schildert Zhuangs Affären mit mehreren Frauen.
Dennoch nimmt es mit dem scheinbar so glanzvollen Zhuang kein gutes Ende – am Ende sehen wir ihn völlig verzweifelt an einer Bushaltestelle.
Für Literaturprofessor Zhang Qinghua von der Pädagogischen Universität Beijing spiegelt sich im Leben des Romanhelden Zhuang auch der Ansatz von Autor Jia Pingwa:
„In der Verzweiflung von Zhuang erkennen wir auch, wie sehr Jia an seinem Helden verzweifelt. Denn in Zhuangs Schicksal werden die Werte und der Kampf Jias deutlich. Er lässt offen, ob sein Held überlebt oder nicht, und das zeigt wohl, dass Jia im Innersten glaubt, dass Leute wie Zhuang nicht überleben werden."
Literaturprofessor Zhang bezeichnet Jias „Die verlassene Hauptstadt" als schillerndes Porträt des urbanen Lebens in einer Übergangszeit. Denn es zeichne sehr genau die geistige Verfassung heutiger Chinesen nach und leuchte das kulturelle Auf und Ab eines gesellschaftlichen Umbruchs aus.
„In jeder Übergangsphase gehen auch bestimmte persönliche Eigenschaften verloren. Es ist tatsächlich ein kultureller Umbruch. Anfang der 1990er Jahre und speziell ab 1992 fand in China der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft statt. Der Roman beschreibt, welche Turbulenzen das für das Bewusstsein der Leute mit sich brachte. Das Buch ist unerreicht in seiner Beschreibung des Schicksals Intellektueller und ihrer Auffassungen."
Romanheld Zhuang verkörpert sowohl den Geist der traditionellen chinesischen Literaten als auch den moderner Intellektueller. Zwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ist der Roman „Die verlassene Hauptstadt" noch immer ein bedeutsames, starkes und realistisches Porträt einer Gesellschaft und der Menschen in ihr.