Ursprünglich waren die Huizhouer Geschäftsleute Bauern. Infolge von Landmangel und Überbevölkerung sahen sie sich aber bald einmal gezwungen, ihr Glück fern ihrer Heimat zu suchen. Land ist in der hügeligen Gegend am Südfuß des Huangshan auch heute noch Mangelware. Die Fahrt durch die fruchtbare Hügellandschaft erweckt den Anschein, als würde jeder Quadratzentimeter des fruchtbaren Bodens landwirtschaftlich genutzt. Augenfällig sind vor allem die gelben Chrysanthemen-Felder.
Nicht weiter verwunderlich also, dass der Teehandel schon eine der vier Hauptgeschäftszweige der Huizhouer im alten China war. Die Vorfahren von Präsident Hu Jintao beispielsweise handelten mit Tee. Andere Familien verkauften Salz und Holz oder betätigten sich als Pfandleiher.
Ganz offensichtlich mit überwältigendem Erfolg. Die Profite, welche die Huizhouer in der Fremde erwirtschafteten, steckten sie in ihren Heimatdörfern in den Bau von für damalige Verhältnisse luxuriöse Häuser mit eleganten Fassadenverzierungen und pompöse Ahnentempel. Auf diese Weise entstanden im Schatten des Huangshan Dörfer, wie es sie nirgendwo sonst in China gibt.
Am bekanntesten sind Xidi und Hongcun, die gerne auch als „Museum für Architektur aus der Ming- und Qing-Dynastie" bezeichnet werden. Beide gehören seit dem Jahr 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO.
Die mehreren hundert Wohnhäuser in Xidi und Hongcun gelten als architektonische Juwelen. Sie verfügen typischerweise über geschwungene schwarze Ziegeldächer und hohe weiße Mauern. Aus Angst vor Räubern wurden die wenigen Fenster möglichst weit oben angebracht, so dass sie selbst für den größten Dieb unerreichbar waren. Damit ihre Häuser trotzdem vom Sonnenlicht durchflutet werden konnten, bauten die Huizhouer in ihre Dächer große viereckige Öffnungen ein. Die direkt unter diesen „Himmelsfenstern" angelegten Becken fingen das Regenwasser auf und garantierten dadurch stets die Wasserversorgung im Haus.
Wasser nahm in der Kultur der Huizhouer auch sonst eine ganz besondere Rolle ein. Für sie galt: nicht Zeit ist Geld, sondern Wasser. In Anspielung auf die Landwirtschaft, den Urquell ihres Reichtums, betrachteten sie Regen als Gold und Schnee als Silber.
In Hongcun wurde diese Philosophie auch architektonisch umgesetzt. Nach mehreren Bränden sollen die Dorfältesten einst einen Fengshui-Meister zu Rate gezogen haben. Dieser entdeckte, dass das Dorf in der Form eines knieenden Ochsen gebaut worden war, dem es an einem „Verdauungsapparat" fehlte. Um dieses Manko zu beheben, aber auch um sicherzustellen, dass der Geldfluss zurück ins Dorf nie versiegen wird, ordnete der Fengshui-Meister kurzerhand den Bau eines Magendarmtrakts in Form von Kanälen und Teichen an.
Dieser „chirurgische" Eingriff hat das Dorf seither nicht nur von Bränden verschont, sondern noch mehr Reichtum beschert. Während die Bewohner von Hongcun früher jahrelang in der Fremde ihr Brot verdienen mussten, können sie sich heute gemütlich Zuhause in ihren Sesseln zurücklehnen und die Einnahmen aus dem florierenden Tourismusgeschäft zählen.
Mit freundlichen Grüßen aus dem völlig überlaufenen „Ochsendorf" Hongcun,
Simon Gisler