Legionen von Dichtern ließen sich von ihm inspirieren. Unzählige Maler haben ihn auf Papier verewigt. Der Kassenschlager „Avatar" soll von ihm inspiriert worden sein. Etliche Fernsehserien und Filme wurden auf ihm gedreht. Selbst Zigarettenmarken wurden nach ihm benannt, und an seinem Fuße wird schon seit langem Tee angepflanzt, der zu den besten Chinas gehört. Die Rede ist vom Huangshan, dem „Gelben Berg".
Der im Süden der Provinz Anhui gelegene Huangshan wird zu Chinas zehn Top-Sehenswürdigkeiten gezählt. Seine steilabfallenden Felsen, aus deren Spalten an den unglaublichsten Stellen Kiefern wie Pilze sprießen, sind genauso legendär wie seine vielen bizarren Gesteinsformationen, die oft im Nebelmeer versinken.
Seiner atemberaubenden Schönheit wegen wird der Huangshan ganz unbescheiden gerne auch als „Erster Berg unter dem Himmel" bezeichnet. Dieses Prädikat ist allerdings nicht ganz zutreffend, handelt es sich beim Huangshan doch nicht um einen einzelnen Berg, sondern vielmehr um ein Gebirgsmassiv, das aus nicht weniger als 72 Gipfeln besteht, die zwischen 1.300 und knapp 1.900 Metern hoch sind.
Auch die Farbe Gelb in seinem Namen ist irreführend. Wer Wetterglück hat wie wir heute, wird unschwer feststellen, dass das Gestein der einzelnen Gipfel, die oft wie überdimensionale Bergkristalle in die Höhe ragen, entweder weiß oder schwarz ist. Seinen Namen verdankt der Gelbe Berg der Legende von „Huangdi", dem „Gelben Kaiser", den die Chinesen als ihren mystischen Gründungsvater betrachten. Da Huangdi auf einem der 72 Gipfel Unsterblichkeit erlangt und in den Himmel hinauf gefahren sein soll, wurde das Gebirge im 8. Jahrhundert auf kaiserliches Geheiß in „Huangshan" – „Gelber Berg" – umbenannt.
Einer seiner ersten Besteiger war Xu Xiake (1587-1641). Der chinesische Geograf und Reisejournalist war von der Schönheit des Huangshans so überwältigt, dass er in sein Tagebuch schrieb: „Wer den Huangshan gesehen hat, braucht keine anderen Berge mehr zu sehen."
Den Huangshan für sich alleine zu genießen, wie das Xu Xiake noch konnte, ist heute praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst an einem gewöhnlichen Wochentag im November kommt es an gewissen Stellen der gepflasterten und bestens ausgebauten Wege zu kleineren Staus. Und wer an den beliebtesten Aussichtspunkten ein Erinnerungsfoto ohne fremde Köpfe im Bild haben will, der muss sich wohl oder übel in Geduld üben. Wie es auf dem Huangshan über die diesjährigen Nationalfeiertage im Oktober gewesen sein muss, als sich auf seinen Pfaden pro Tag im Schnitt nicht weniger als 25.000 Besucher tummelten, stellt man sich besser erst gar nicht vor.
Dafür muss der moderne Wanderer auf keine Annehmlichkeit verzichten. Während Xu Xiake noch zu Fuß zum „Beihai", dem beliebtesten Aussichtspunkt, hinauflaufen musste, stehen dem müden Wanderer von heute zusätzlich zu den zwei Aufstiegsrouten drei Gondelbahnen zur Verfügung. Beim „Beihai" gibt es zudem mehrere Hotels inklusive Shops, eine Bankfiliale, einen China Mobile-Laden, eine Polizeiwache und sogar einen Basketballplatz, auf dem sich die Gäste des Viersternehotels „Beihai" frühmorgens schon einmal für den Sonnenaufgang aufwärmen können.
Danach können sie im schmucken Postamt gegenüber ihren Liebsten zuhause eine Postkarte mit der Aufschrift schicken: „Der Huangshan ist in der Tat atemberaubend schön. Xu Xiake hat trotzdem Unrecht. Ich werde jetzt nämlich erst recht Wandern gehen, weil ich herausfinden will, ob der Huangshan wirklich „der erste Berg unter dem Himmel ist", wie die Chinesen behaupten.
Mit freundlichen Grüßen vom Huangshan,
Simon Gisler."