Der Ort Xuancheng im Herzen der Provinz Anhui ist im Westen völlig unbekannt. Höchstens die Liebhaber der chinesischen Kalligraphie dürften wissen, dass hier im Schatten des Huangshan vor tausend Jahren ein Papier erfunden wurde, das auch heute noch zu den qualitativ besten Sorten der Welt gehört.
Die Herstellung des sogenannten Xuan-Papiers erfolgt nach wie vor fast ausschließlich von Hand und dauert nahezu ein Jahr. Der Qualität wegen wird bevorzugterweise Holz von Bäumen aus der näheren Umgebung verwendet. Aus gutem Grund, wachsen um Xuancheng herum doch Bäume wie der Nanmu, die sehr selten geworden sind und heute ein kleines Vermögen kosten.
Im Marenshan Forest Park etwa eine Autostunde vom Ursprungsort des Xuan-Papiers entfernt, kann man für einige Yuan bis zu 300 Jahre alte Nanmu-Bäume in voller Pracht bestaunen. Wegen seinen bizarren Felsformationen wird der Marenshan gelegentlich auch als „Anhuis Zhangjiajie" bezeichnet.
Die imposantesten und gleichzeitig auch merkwürdigsten Sehenswürdigkeiten im Park sind jedoch allesamt von Menschenhand geschaffen. Geradezu surreal wirkt der knapp zehn Meter hohe und mehrere Tonnen schwere Weihrauchkessel am Fuße eines Hangs, der zu fünf goldenen Statuen hinaufführt. Der Mega-Kessel soll den Wunsch seiner Erbauer nach einer „besseren Zukunft für die Menschheit" zum Ausdruck bringen. Damit dieser fromme Wunsch auch ja in Erfüllung geht, wurde er gleich mit 999 „Fu" – das chinesische Schriftzeichen für „Glück" oder „Segen" – beschriftet.
Noch mehr ins Staunen kommt, wer sich die Mühe macht, den steilen Hang hinter dem kolossalen Segensbringer hinaufzusteigen: Nach einem fetten Buddha begegnet der verdutzte Besucher plötzlich wie aus dem Nichts nackten oder spärlich bekleideten Höhlenmenschen, Elefanten und sonstigem exotischen Getier.
Die Plattform, die der Besucher fünf schweißtreibende Minuten später erreicht, macht ihn gar völlig sprachlos: als wäre ihre Anordnung völlig logisch sitzen der griechische Göttervater Zeus, der chinesische Philosoph Laozi, Buddha Shakyamuni aus Indien und eine namenlose Maya-Göttin aus Südamerika, aus deren Achselhöhlen Tigerköpfe wachsen, im Halbkreis zusammen als würden sie meditieren. In ihrer Mitte thront Pangu, das nach chinesischer Mythologie erste Lebewesen auf der Erde.
Trotz Infotafeln in englischer Sprache bleibt die Bedeutung dieser fünf Figuren so schleierhaft wie die Antwort auf die Frage, warum vor tausend Jahren ausgerechnet in dieser entlegenen Gegend ein Produkt von Weltklasse-Format wie das Xuan-Papier erfunden werden konnte.
Die einzige Statue im Marenshan-Park, die selbst der ungebildetste Zeitgenosse auf Anhieb erkennt, ist zweifelsohne jene von Mao Zedong. Chinas „Roter Sonne" wurde im Schatten von Zeus ein Denkmal gesetzt, welches das Herz eines jeden Historikers höher schlagen lässt. Auf einer Fläche von 400 Quadratmetern werden 10.000 Abzeichen, Propagandaposter und sonstige Mao-Memorabilia gezeigt, die der Sammler Gong Shilin aus Wuhu in 40 Jahren zusammengetragen hat.
Auf Xuan-Papier gemalte Bilder hängen heutzutage nicht nur im Museum der Verbotenen Stadt in Beijing, sondern in vielen anderen renommierten Museen auf der ganzen Welt. Das Papier aus Anhui hat sich als besonders alterungsresistent erwiesen, und genießt daher in Künstlerkreisen über Chinas Grenzen hinweg einen exzellenten Ruf.
Der Marenshan Forest Park hat es noch nicht zu Weltruhm gebracht. Sollte ihm das eines Tages wider Erwarten doch gelingen, dann zweifellos weniger wegen seiner bizarren Felsformationen als vielmehr wegen seinen illustren Statuen, die eine Verewigung auf Xuan-Papier durchaus verdient hätten.
Mit freundlichen Grüßen vom Marenshan,
Simon Gisler