Jeder, der sich ein wenig mit China beschäftigt, hat wohl relativ früh erfahren, wie wichtig das Mianzi, wörtlich übersetzt „das Gesicht", in China ist. Man kann Gesicht geben und nehmen, man kann es verlieren und gewinnen. In weiten Teilen lässt sich das Mianzi mit den westlichen Konzepten von Reputation und Ansehen vergleichen, doch umfasst es noch etwas mehr. Zudem erfolgt das Geben und Nehmen von Mianzi häufig sehr indirekt und bleibt einem ungeübten westlichen Auge zumeist verborgen.
Das Gesicht eines anderen Menschen zu respektieren und ihn nicht durch eigene Handlungen oder Worte in eine unangenehme Situation zu bringen, ist wohl die wichtigste Verhaltensregel für alle Menschen in China. Einer der Grundsätze der konfuzianischen Tradition lautet, dass eine harmonische Gesellschaft nur dann möglich ist, wenn jeder Einzelne um Harmonie in seiner unmittelbaren Umgebung bemüht ist. Besonders wichtig ist in dieser Hinsicht, das Gesicht der eigenen Mitmenschen zu achten und zu bewahren. Doch hört die Funktion des Mianzi in den zwischenmenschlichen Beziehungen an diesem Punkt nicht auf. Es gilt vor allem auch, Mianzi zu betonen und hervorzuheben. Während man in einigen westlichen Ländern eigene Leistungen und Stärken unterstreicht, wird dies in China häufig als aufdringlich und protzig empfunden. In diesem Punkt unterscheiden sich westliche Gebräuche erheblich von der konfuzianisch geprägten Denkweise Chinas. Natürlich werden auch in China eigene Anstrengungen und erreichte Ziele betont, doch findet dies zumeist durch andere Personen und damit weniger direkt statt. Indem man auf Verdienste und Errungenschaften des Gegenübers hinweist, verleiht man diesem Ansehen und kann zugleich die persönlichen Beziehungen verbessern. Gleichzeitig verlangt die Tugend der Zurückhaltung vom Empfänger der Komplimente, die Bedeutung des offenen Lobes hinunterzuspielen. Dies sollte jedoch keinesfalls als Selbstlosigkeit missverstanden werden. Trotz allen Abstreitens ist der Adressat der Schmeicheleien höchstwahrscheinlich innerlich von Stolz erfüllt.
Darüber hinaus ist das Konzept des Mianzi untrennbar mit dem Konzept der sozialen Rolle verbunden. Mit der Übernahme einer bestimmten Rolle erkennt der Einzelne automatisch eine ganze Reihe von Verhaltensmerkmalen und gesellschaftlichen Erwartungen an. Dabei wird die eingenommene Rolle im wörtlichen Sinne zum Selbstbild, welches in jedem Falle gewahrt bleiben muss, um die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten.
Aus einem westlichen Blickwinkel betrachtet, erscheint der Begriff „Gesicht" negativ, da er mit Oberflächlichkeit assoziiert wird. Doch das Mianzi hat keineswegs mit Vortäuschung zu tun, sondern ist ein grundlegendes Element aller zwischenmenschlichen Beziehungen in China. Mianzi bezeichnet die Stellung, die jemand aufgrund seines Charakters und seines Ansehens innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe einnimmt. Dabei ist das Mianzi stets reziprok angelegt. Es liegt daher in der gemeinsamen Verantwortung aller, dass Stellung und Ansehen anderer nicht verletzt werden. In der Konsequenz bedeutet das: Fügt man anderen Menschen einen Gesichtsverlust zu, beschädigt man damit gleichzeitig auch sein eigenes Ansehen. Mianzi lässt sich also durchaus als eine Art immaterielle gesellschaftliche Währung begreifen –
als „kollektives Prestige", um dessen Erhalt die ganze Gemeinschaft besorgt ist.
Die Wahrung des Gesichts ist so wichtig, dass man im Konfliktfall lieber lügt, als es zum Gesichtsverlust kommen zu lassen. Doch das Mianzi beschränkt sich keineswegs auf das Privatleben, sondern ist genauso auch in Geschäftsbeziehungen relevant. Selbst im Umgang mit Fremden ist es Chinesen sehr wichtig, ihr Gesicht zu wahren, vor allem, wenn eine langfristige geschäftliche oder soziale Beziehung angestrebt wird.
Dabei ist zu beachten, dass dieses Konzept häufig in symbolischen Gesten und Handlungen zum Ausdruck kommt. Wenn sich ein Chinese etwa von einem Besucher verabschiedet, wird er ihn als Zeichen des Respekts zumindest bis zur Tür begleiten. Handelt es sich um einen relativ wichtigen Besucher, begleitet er ihn noch ein Stück weiter, vielleicht bis zum Aufzug. Einem besonders wichtigen Gast wiederum gebührt Geleit bis vors Haus oder zum Wagen. Dies zeigt, dass es sich bei der Gesichtswahrung um eine subtile Praxis handelt, bei der jeweils unterschiedliche soziale Rollen berücksichtigt werden müssen. Im Prinzip geht es freilich immer darum, einem Freund oder Geschäftspartner die ihm angemessene Ehre zu erweisen und ihn spüren zu lassen, dass man ihn achtet.
In China setzt Mianzi an erster Stelle bestehende Beziehung zu Mitmenschen voraus. Ohne zwischenmenschliche Beziehungen gibt es weder die Möglichkeit der Selbsterkenntnis noch ein „Gesicht". Das aktivierende Element einer jeden Beziehung ist folglich die Reziprozität oder Gegenseitigkeit - ein Prinzip, auf dem jedwede soziale und wirtschaftliche Interaktion gründet. Durch ein fortgesetztes Geben und Nehmen stellen die Beteiligten sicher, dass ihre Beziehungen dauerhaft angelegt sind und sich positiv entwickeln können.
Das Prinzip der Reziprozität impliziert, dass man sich gegenseitig aus Schwierigkeiten hilft. Zwei chinesische Sprichwörter veranschaulichen, wie sehr solche Hilfe in der Not geschätzt und entsprechend belohnt wird: Eines lautet „Wenn du Wasser trinkst, gedenke der Quelle", ein
weiteres besagt: „Ein Tropfen Wasser in Zeiten der Not wird auf ewig vergolten". Wer zu Chinesen eine starke und dauerhafte Beziehung aufbauen will, die sich in schwierigen Zeiten bewähren wird, sollte daher das Prinzip der Gegenseitigkeit gewissenhaft im Auge behalten.
Das Element der Reziprozität durchzieht alle Ebenen des sozialen Kontakts, vom lockeren Treffen bis zur wichtigen Geschäftsbesprechung. Wenn Chinesen miteinander Essen gehen, gibt es selten getrennte Rechnungen, auch nicht, wenn man sich gerade erst kennen gelernt hat. Einer übernimmt also zum Schluss die Zeche, nachdem man sich zuvor wohlwollend um diese Ehre „gestritten" hat. Die unausgesprochene Regel lautet: Dieses Mal bin ich an der Reihe, nächstes Mal du. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass langfristig jeder seinen fairen Anteil beiträgt. Allerdings sollte man sich dies nicht als eine Form der Buchhaltung vorstellen: So sensibel man in Hinsicht auf die Ausgeglichenheit als Prinzip auch ist, so wenig wird im Detail Buch geführt. Stattdessen gehen Chinesen einfach davon aus, dass alle Beteiligten diese Prinzipien verstehen und beherzigen werden.
Übersetzt von Huang Gang
Gesprochen von Huang Gang



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