Das Festtagsessen am chinesischen Silvester, auf Chinesisch „Nian Ye Fan", ist eigentlich der wichtigste Bestandteil des Frühlingsfestes. Ihm folgt der zweitwichtigste Moment des Festes, der Verwandtschaftsbesuch am ersten Tag des Neujahrs. In den meisten Landesteilen Chinas ist es Tradition, dass ein Ehepaar diese beiden wichtigen Tage bei den Eltern des Ehemanns verbringt. Für die Männer ist es natürlich eine gute Sache. Aber für die Frauen, insbesondere diejenigen, die Einzelkinder sind, ist es nicht so schön, die eigenen Eltern allein zu Hause zu lassen.

Herr Zhong und seine Frau, Frau Wang, leben seit zwei Jahren in Guangzhou. Der Mann kommt aus der Stadt Huizhou, die nicht weit von Guangzhou entfernt liegt. Frau Wang kommt aus der zentralchinesischen Provinz Hubei. Es gibt jedes Mal Streit zwischen dem jungen Ehepaar, bei der Entscheidung, bei welchem Elternpaar sie das Frühlingsfest verbringen.

„Ich will so sehr nach Hause, um mit meinen Eltern zusammen das Fest zu verbringen. Und deswegen bin ich schlecht drauf."

Frau Zhang kommt ebenfalls aus Hubei und lebt jetzt mit ihrem Mann in der ostchinesischen Provinz Jiangsu. Ihr Mann hat wirklich Glück, weil er eine traditionsbewusste Frau geheiratet hat.

„Nachdem die Frauen verheiratet sind, müssen sie bei den Eltern des Ehemanns das Frühlingsfest verbringen. Das ist eine Tradition in meiner Heimat Hubei. Dabei gibt es nichts zu diskutieren."

Im Jahr 1978 wurde in China die Familieplanungspolitik eingeführt. Jedes Ehepaar darf nur ein Kind haben. Aus diesem Grund sind die meisten Chinesen unter 30 Einzelkinder. Statistiken zufolge gibt es derzeit über 100 Millionen Einzelkindfamilien in China. Ein chinesisches Sprichwort lautet „eine verheiratete Tochter gleicht verschüttetem Wasser". Das heißt, nachdem die Tochter an ihren Mann verheiratet wurde, ist sie vor allem ein Mitglied seiner Familie. Ihre eigenen Eltern müssen das in Kauf nehmen.

Die jungen Frauen wollen das aber nicht länger akzeptieren. Das alles ist das Klischee der alten Gesellschaft. Heute sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Ich arbeite, ich verdiene Geld und ich habe auch meine Eltern, die ausschließlich auf mich angewiesen sind. Meine Eltern sind genau so wichtig wie deine. Die Männer wollen jedoch auch nicht nachgeben. Tradition ist Tradition, geschweige denn, wenn man der einzige Sohn der Eltern ist! Herr Yin braucht sich jedoch nicht um dieses Problem zu sorgen.

„In den letzten Jahren haben wir das Frühlingsfest immer mit meinen Eltern gefeiert, entweder bei meinen Eltern zu Hause oder bei uns zu Hause. Der Grund liegt nicht darin, dass ich kein Verständnis für meine Frau habe, sondern darin, dass ihre Eltern, also meine Schwiegereltern gerne an der alten Tradition festhalten. Sie meinen, dass eine Frau das Frühlingsfest unbedingt bei den Eltern des Partners verbringen muss."

Es gibt dabei aber auch Ausnahmen. Frau Bai und ihr Mann sind beide Beijinger. Beide Eltern leben in Beijing. Aus diesem Grund haben sie glücklicher Weise nie das Problem der Elternwahl. Aber die Frage bei welchen Eltern man zum Silvesterabend isst, steht immer wieder im Raum. In diesem Zusammenhang ist die 36jährige Frau Bai ihrem Mann sehr dankbar.

„Mein Mann hat mich in dieser Frage immer verwöhnt. Meine Eltern sind viel älter als seine Eltern. Mein Vater ist schon 73 Jahre alt. Ich bin auch das einzige Kind meiner Eltern, was in meinem Alter eigentlich nicht so üblich ist. Deswegen essen wir am Silvesterabend normalerweise bei meinen Eltern. Bevor die Neujahrsglocke um 12 Uhr geläutet wird, besuchen wir seine Eltern in einem anderen Stadtteil. Zum Glück wohnen wir alle in Beijing."

Wenn das Ehepaar und die beiden Elternpaare in derselben Stadt oder zumindest in demselben Landesteil leben, ist das Problem noch leichter zu lösen. Andernfalls müssen sich das Ehepaar und die Eltern miteinander absprechen, damit man eine für alle Seiten akzeptable Lösung findet. Herr Li aus der ostchinesischen Provinz Jiangxi hat beispielsweise dieses Jahr etwas nachgegeben. Er fährt zum bevorstehenden Frühlingsfest mit seiner Frau in deren Heimat Hubei. Über die Entscheidung ihres Mannes freut sich Frau Liu sehr. Zugleich unterstreicht sie, dass man die Eltern öfter besuchen muss.

„Solange man Zeit hat, sollte man seine Eltern öfter in der Heimat besuchen. Dann ist es nicht mehr so schlimm, wenn man zum Frühlingsfest nicht nach Hause kann. Aber wenn man während der Frühlingsfest-Ferien genügend Zeit hat, sollte man doch beide Elternpaare besuchen. So ist es halt besser."

Es lässt sich eigentlich leicht verstehen, dass jedes Elternpaar das wichtigste Fest mit seinen Kindern verbringen möchte. Aber manche Eltern verzichten lieber auf das familiäre Zusammentreffen, denn sie wollen nicht, dass sich ihre Kinder während der Ferien abhetzen und pendeln müssen. Der Pensionist Herr Wu lebt in Beijing. Sein einziger Sohn und die Schwiegertochter leben zurzeit in den USA. Herr Wu meint, die chinesischen Eltern sollten lernen, ihr eigenes Leben ohne Kinder zu genießen. Er und seine Frau werden das Fest ganz ruhig verbringen und mit ihren Kindern in den USA telefonieren. Ohne Druck, ohne Strapaze, mit Liebe und Verständnis, so soll das Frühlingsfest sein, so der optimistische Herr Wu.

Gesprochen von Zhu Liwen