Kouji - Die Kunst der Nachahmung

2017-04-28 15:29:25

„Kouji" bedeutet wörtlich etwa „Mundfähigkeit". Hinter dem chinesischen Begriff steckt eine volkstümliche Kunst Chinas mit einer Geschichte von über 2.300 Jahren. Die Künstler ahmen dabei Geräusche wie das Zwitschern eines Vogels oder die Geräusche einer Lokomotive so realistisch nach, dass das Publikum glaubt, wirklich vor einem Vogel oder einer Lokomotive zu stehen. Kouji wurde im Mai 2010 vom chinesischen Kulturministerium in die Liste des staatlichen immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Niu Yuliang ist ein bekannter Kouji-Künstler aus Beijing. Wir haben ihn in seiner Wohnung besucht, um der einzigartigen Kunst ein wenig näher zu kommen.

Es klingt wie das Zwitschern eines Vogels, in Wirklichkeit kommt dieses Geräusch jedoch von einem chinesischen Mann. Er heißt Niu Yuliang und wurde 1938 geboren. Er ist Kouji-Künstler, kann also verschiedenste Geräusche realistisch nachahmen. Wenn Niu Yuliang zu Hause ist, zwitschert er gerne mit seinem Vogel um die Wette. Es sieht aus, als würden sie sich unterhalten. Niu zufolge sind Vögel seine Kouji-Lehrer.

„Nachdem ich Kouji ein Jahr lang gelernt hatte, hatte ich 1958 eine Aufführung in Wuhu. Eines Morgens entdeckte ich auf einem Baum hinter einem Tempel einen Pirol. Ich fand seine Stimme sehr schön und habe begonnen, ihn nachzuahmen. Wenn er zwitscherte, zwitscherte ich. Nach und nach wurden wir Freunde. Ich war acht Tage in Wuhu und in diesen Tagen habe ich täglich von dem Pirol gelernt. Als wir bei der Abfahrt an den Baum vorbeifuhren, war der Vogel immer noch da. Der Vogel war mein Lehrer."

Niu war schon als Kind ein großer Fan von Vögeln und der Natur. Er interessierte sich außerdem schon sehr früh für Tiergeräusche.

„Als ich noch klein war, wohnte meine Familie in Gaobeidian im Stadtbezirk Chaoyang. Damals gab es noch viele kleine Teiche. Es gab dort viele Frösche, Vögel und Insekten. Ich mochte es, ihre Geräusche nachzuahmen."

1953 wurde Niu Yuliang in ein Akrobatikensemble aufgenommen. Dort hat er erfahren, dass es in China tatsächlich eine Kunst der Geräuschnachahmung gibt: Kouji, wörtlich „Mundfähigkeit". Drei Jahre später ging er nach Shanghai und wurde ein Schüler des berühmten Kouji-Künstlers Zhou Zhicheng. Das tägliche Training war sehr hart, auch Rauchen und Alkohol waren verboten.

„Ich musste für das Training jeden Tag um fünf Uhr aufstehen. Am Abend ging ich zu Teichen und Flüssen, um die Geräusche von Fröschen und Mücken zu hören. Dabei habe ich viele Mückenstiche bekommen."

Durch seinen Fleiß konnte Niu seine Kouji-Fähigkeiten schnell verbessern. Nach nur einem Jahr, also 1958, hatte er einen ersten Auftritt in Wuhan. Die Premiere verlief jedoch anders als geplant.

„In Wuhan wurden damals Maßnahmen zur Aufklärung über Luftschutz verbreitet. Ich sagte den Zuschauern, dass ich ihnen etwas über Luftschutz beibringen würde. Als ich den Alarm nachmachte, rannten draußen alle weg. Ich war in der Akrobatikhalle und die anderen Leute wussten davon nichts. Als sie den Alarm hörten, dachten sie, es sei ein echter Luftangriff. Die Polizisten vor Ort haben versucht, die Leute zu beruhigen. Sie sagten mir, ich solle keinen Alarm mehr nachmachen, es könnte sonst Menschenleben kosten. Ich habe von meiner Premiere gelernt, dass das Programm dem Ort, der Zeit und den Zuschauern entsprechen sollte."

Niu Yuliang ist inzwischen nicht mehr der Jüngste und will seine Kunst weitergeben. Doch um Kouji steht es in China nicht wirklich gut.

„Es ist eigentlich schon fast zu spät, von Überlieferung zu sprechen. Von meiner Generation bin ich der einzige, der noch auf die Bühne tritt. Deshalb mache ich mir große Sorgen. Es ist sehr schwierig, diese Kunst weiterzugeben. Ich habe über zehn Schüler, aber keiner von ihnen kann bisher traditionelle Stücke aufführen. Warum ist es so schwer? Ein Kouji-Künstler muss nicht nur gute körperliche Voraussetzung haben, er muss auch bereit sein, das Leben kennenzulernen und es zu verstehen. Außerdem muss man unglaublich hart üben, besonders die Bewegung der einzelnen Muskeln muss man fleißig trainieren. Heutige Künstler sind ungeduldig und wollen nur so schnell wie möglich Geld verdienen."

In den vergangenen Jahren hat sich Niu Yuliang mit aller Kraft für die Überlieferung seiner Kunst eingesetzt. Nun arbeitet er an der Veröffentlichung des ersten chinesischen Kouji-Lehrbuchs. Niu und seine Schüler besuchen außerdem jede Woche die Beijinger Mittelschule Nr. 35 und die Grundschule Honglian, um den Schülern Kouji beizubringen. Er hofft, in den Schulen neue Schüler für seine Kunst finden und sie zu Kouji-Künstlern ausbilden zu können.

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