Guo Wenying zieht sich ihr Kostüm an, setzt sich ihr Headset auf, testet ihr Mikrofon und beginnt ihre erste Live-Show im Jahr 2020. Sie bietet ihren 34.000 Zuschauern die traditionelle lokale Oper namens Daoqing dar.

Die 57-Jährige ist eine Landwirtin aus dem Kreis Loufan in der nordchinesischen Provinz Shanxi. Der Landkreis war jahrzehntelang von Armut geplagt und hat sich erst vor kurzem von seiner finanziellen Not befreit.

Guo interessierte sich schon in ihrer Jugend für die Daoqing-Oper, eine Musikform aus der Tang-Dynastie vor etwa 1.300 Jahren. Die Darsteller tragen dabei meist farbenfrohe Kostüme und singen in lokalen Dialekten. Mit 17 Jahren begann Guo bei traditionellen Festen im Dorf aufzutreten. Damals war es für sie jedoch unmöglich, durch Opernaufführungen ihr Brot zu verdienen. Viele Jahre lang ernährte sie sich täglich von Süßkartoffeln und Maismehl. Da das Dorf durch einen riesigen Berg von der nächsten Stadt getrennt wird, musste Guo, nur um Vorräte zu kaufen, bis zu acht Stunden zu Fuß gehen.

1990 lag das Pro-Kopf-Jahreseinkommen der Bauern in Loufan bei 328 Yuan RMB (etwa 42 Euro). Die damals 28-jährige Guo kümmerte sich zuhause um ihre drei Kinder und die ganze Familie konnte mit dem Einkommen ihres Mannes gerade so über die Runden kommen.

Heutzutage liegt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen in Loufan neuesten Regierungszahlen zufolge bei über 7.500 Yuan RMB (etwa 970 Euro). Es ist in den vergangenen 30 Jahren um mehr als das 20-Fache gestiegen. Im vergangenen April ist es Luofan schließlich gelungen, den Hut eines „unter Armut leidenden Kreises“ abzulegen.

Mit der Verbesserung der Lebensbedingungen hat Guo mehr Zeit, sich wieder ihrem Hobby zu widmen. Dieses Mal hat sie ihre Bühne aus der freien Natur jedoch ins Internet verlegt.

Sie hat bei jemand anderem zufällig gesehen, wie man mit seinem Handy eine Live-Übertragung durchführen kann und es anschließend schnell erlernt. Sie erklärt: „Früher habe ich immer für andere gelebt. Jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, das ich für mich selbst lebe. Jetzt ziehe ich jeden Tag mein Kostüm an, weil ich mir keine Sorgen mehr ums Geld machen muss. Meine Follower sind wie eine große Familie geworden. Ich bin wirklich glücklich.“

Guo singt über taoistische Geschichten, erzählt Anekdoten von historischen Königsfamilien und zeigt sich auch selbst bei der Arbeit auf dem Feld und bei der Herstellung lokaler Spezialitäten. „Viele Menschen wissen nicht, wie die Landschaft aussieht. Ihnen hilft der Livestream dabei, das zu verstehen. Das bringt mir viele Fans."

Guo verdient durch ihren Livestream inzwischen mehr als 1.000 Yuan RMB im Monat, manchmal sogar 2.000. Für dieses Jahr hat sie sich das Ziel gesetzt, 50.000 Follower zu erhalten.

„Ich möchte mich öfter mit Fans und Kollegen austauschen, um mein Darstellungsniveau zu erhöhen. Und ich will mit meinen Eltern zusammen Shanghai besuchen“, erklärt Guo zuversichtlich.