Der chinesische Botschafter in Deutschland, Wu Ken, hat sich am Mittwoch in einem Interview mit den „Spiegel“-Journalisten Christoph Schult und Georg Fahrion unter anderem zum China-EU-Gipfeltreffen, der Lage in der Ukraine sowie Chinas Politik und Standpunkt geäußert. „Der Spiegel“ hat das Interview am Freitag auf seiner Webseite veröffentlicht.
SPIEGEL: Der legendäre chinesische Politiker Zhou Enlai hat 1953 die »Fünf Prinzipien« der chinesischen Außenpolitik formuliert. Welche Rolle spielen sie heute noch?
Botschafter Wu: Eine sehr wichtige. China betrachtet sie als Fundament unserer zwischenstaatlichen Beziehungen, sie entsprechen der UN-Charta und liegen auch im Interesse aller Länder. Sie gelten nach wie vor als Leitlinien unserer Außenpolitik.
SPIEGEL: Diese Prinzipien lauten: gegenseitiger Respekt für territoriale Souveränität, Nichteinmischung, Nichtaggression, Egalität und Reziprozität sowie friedliche Koexistenz. Welches dieser Prinzipien verletzt Russland in der Ukraine derzeit nicht?
Botschafter Wu: Unsere Position ist offen und konsequent. Die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder sollen respektiert werden. Der Ausweg aus der Krise liegt daran, an den Grundprinzipien der UN-Charta festzuhalten und Dialoge bzw. Verhandlungen der beiden Konfliktparteien zu fördern. Man muss auch anerkennen, dass die Ukraine-Krise einen komplizierten historischen Hintergrund hat. Wie kam es dazu, dass die Spannungen in einer militärischen Auseinandersetzung mündeten? Ein chinesisches Sprichwort sagt: Mit einer Hand kann man nicht klatschen (in etwa: Es gehören immer zwei dazu, Anm. d. Red.).
SPIEGEL: Im Moment ist es aber die Souveränität einzig und allein der Ukraine, die angegriffen wird, und zwar von Russland. Warum hat China solche Schwierigkeiten, das zu benennen?
Botschafter Wu: Bei der Ukraine-Krise nimmt China stets eine objektive und faire Position ein und trifft selbstständige Bewertungen auf der Grundlage der Tatsache. Eine wichtige Lektion der Ukraine-Krise ist, dass Militärbündnisse und Blockkonfrontationen keinen Frieden bringen. Wie für Europa ist Russland auch für China ein wichtiger Nachbar. Aber unsere Partnerschaft ist nicht gegen Dritte gerichtet.
SPIEGEL: Die NATO, Herr Botschafter, hat niemanden provoziert. Seit 2008 hat die NATO keinen Schritt gemacht, die Ukraine an sich zu binden. Sie sprechen sich gegen Blockbildung aus, aber die Ukraine hat sich keinem Block angeschlossen.
Botschafter Wu: Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die NATO fünfmal nach Osten erweitert worden. Ehemalige Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts sind heute Mitglieder der Allianz. Es ist unmöglich, den Frieden langfristig zu bewahren, wenn nicht die legitimen Sicherheitsanliegen aller Parteien berücksichtigt werden. Man darf die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten.
SPIEGEL: China legt stets Wert darauf, dass souveräne Staaten ohne äußere Einmischung eigene Entscheidungen treffen dürfen. Dazu gehört auch die Bündnisfreiheit. Aus gutem Grund hatten Staaten in Osteuropa Angst vor Russland. Ihre demokratisch legitimierten Regierungen haben sich aus freien Stücken für eine NATO-Mitgliedschaft entschlossen. Wo ist das Problem?
Botschafter Wu: Zu dieser Frage kann das Geschichtsbuch eine bessere Antwort geben als ich. Es gibt aber auch viele deutsche und europäische Politiker, die schon vor Jahren vor den Kriegsrisiken gewarnt haben, die eine NATO-Osterweiterung mit sich bringt. Leider wurden solche Mahnungen ignoriert.
SPIEGEL: Als 1968 sowjetische Panzer in die Tschechoslowakei gerollt sind, hat China das als »Imperialismus« verurteilt. Heute rollen russische Panzer in die Ukraine, und China zeigt Verständnis für Russland.
Botschafter Wu: China ist der Meinung, dass jedes verlorene Menschenleben eines zu viel ist. Solche Tragödien geschehen aber nicht nur in der Ukraine, sondern zuvor auch in Afghanistan, in Syrien, im Irak. Auch wir waren damals Opfer von dem NATO-Bombardement in Jugoslawien.
SPIEGEL: Was folgt daraus?
Botschafter Wu: Wir dürfen jetzt nicht Öl ins Feuer gießen, wie es die Regierung jenseits des Atlantiks es gerade tut, indem sie Sanktionen verhängt und Waffen liefert. China ist gerne bereit, weiterhin eine konstruktive Vermittlerrolle zu spielen.
SPIEGEL: Wie könnte eine solche Rolle aussehen?
Botschafter Wu: Präsident Xi Jinping hat am Tag nach Beginn des Konflikts mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert. Bereits in diesem Telefonat hat er zu Friedensverhandlungen aufgerufen, und Russland hat die Dialogbereitschaft gezeigt. Am Dienstag hat nun die fünfte Verhandlungsrunde in der Türkei stattgefunden. Darüber hinaus hat Präsident Xi inzwischen mehrmals mit europäischen Spitzenpolitikern telefoniert.
SPIEGEL: Wie steht es um konkrete Hilfen?
Botschafter Wu: China hat bereits zweimal angekündigt, über das chinesische Rote Kreuz humanitäre Hilfe an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus haben wir unsere Position zur Lösung der humanitären Krise in der Ukraine in sechs Punkten zusammengefasst. Was China gerade tut, das alles zielt darauf ab, die Lage zu deeskalieren. Das ist glaube ich auch das Gebot der Stunde.
SPIEGEL: Der Krieg in der Ukraine wird auch den EU-China-Gipfel an diesem Wochenende überschatten. Ohnehin haben die Spannungen zwischen China und der EU zugenommen: gegenseitige Sanktionen, ein Investitionsabkommen auf Eis. Was erwarten Sie von dem Gipfel?
Botschafter Wu: China und die EU sind strategische Partner und zugleich wichtige stabilisierende Kräfte der Welt. Eine engere Zusammenarbeit liegt im beiderseitigen Interesse. Es steht zu hoffen, dass der Gipfel ein starkes Signal für Freihandel und Multilateralismus aussendet – und gegen eine Rückkehr zur Lagermentalität des Kalten Krieges.
SPIEGEL: Der chinesische Boykott gegen Waren aus Litauen hat dazu geführt, dass die Unterstützung der EU-Partner für ein sogenanntes Anti-Coercion-Instrument gewachsen ist. Dessen Ziel ist es, Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten gegen EU-Länder abzuwenden.
Botschafter Wu: Was Brüssel an Gesetzen plant, ist Sache der EU. Ich hoffe aber, dass die EU dabei keine Doppelmoral walten lässt. Das Problem zwischen China und Litauen ist keine Wirtschaftsfrage, sondern es geht um politische Prinzipien und es betrifft die EU nicht. Mit der Einrichtung eines sogenannten taiwanesischen Vertretungsbüros in Litauen hat Vilnius den Unabhängigkeitsbestrebungen in Taiwan Vorschub geleistet. Damit wurde das selbstgemachte politische Versprechen, nämlich das Ein-China-Prinzip gebrochen und die Grundlage unserer diplomatischen Beziehungen ausgehöhlt. China verteidigt seine legitimen Interessen und Rechte, aber hat kein Land wirtschaftlich genötigt.
SPIEGEL: Wie bitte? Der chinesische Zoll lässt keine litauischen Waren mehr ins Land. Zudem wird Druck auf europäische Unternehmen ausgeübt, die in Litauen produzieren.
Botschafter Wu: Das ist eine Frage des Marktes und der Konsumenten und unsere Regierung hat keinen Druck auf europäische Unternehmen ausgeübt. Das falsche Vorgehen Litauens hat dazu geführt, dass die Chinesen, die sehr patriotisch sind, keine Produkte aus Litauen mehr kaufen wollen.
SPIEGEL: Aber Herr Botschafter, an Chinas Landesgrenzen stehen doch keine Konsumenten, sondern chinesische Zollbeamte.
Botschafter Wu: China hat stets im Einklang mit den WTO-Regeln gehandelt. Wirtschaftszwang ist keine Option von uns.
SPIEGEL: Die Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag deutlich schärfere Töne gegenüber Peking angeschlagen als die Vorgängerregierung von Angela Merkel. Wie reagieren Sie darauf?
Botschafter Wu: Ich verfolge die China-Politik der neuen Bundesregierung mit großer Aufmerksamkeit und habe viele Gespräche mit Politikern und Spitzenbeamten der neuen Bundesregierung geführt. Mein erster Eindruck ist, dass sie sich auch weiterhin für Dialog und eine enge Zusammenarbeit mit China einsetzt. Bundeskanzler Scholz hat schon mit Präsident Xi und Premier Li telefoniert. Es liegt im Interesse beider Länder, die gesunde und stabile Entwicklung der bilateralen Beziehungen weiter aufrecht zu erhalten.
SPIEGEL: Im Koalitionsvertrag der Ampel heißt es: »Eine Ratifikation des EU-China-Investitionsabkommens im EU-Rat kann aus verschiedenen Gründen zurzeit nicht stattfinden.« Welche Zugeständnisse ist Peking bereit zu machen, um das Investitionsabkommen zu retten?
Botschafter Wu: Die Verhandlungen über das Investitionsabkommen haben gut sieben Jahre gedauert. Herausgekommen ist ein hochwertiges und ausgewogenes Dokument. Das ist kein Geschenk für China. Eine zügige Ratifizierung liegt nicht im einseitigen Interesse von China, sondern vor allem der europäischen Wirtschaft, auch der deutschen. Die EU hat mit Sanktionen angefangen, nicht wir.
SPIEGEL: Die Sanktionen richten sich gegen chinesische Offizielle, welche die EU für die Unterdrückung der muslimischen Uiguren in der Region Xinjiang verantwortlich macht. China hat daraufhin mit dem EU-Parlament jenes Gremium sanktioniert, das das Investitionsabkommen ratifizieren muss.
Botschafter Wu: Die Sanktionen von EU sind allerdings lügenbasiert, und China ist zu Gegenmaßnahmen gezwungen. Das Problem sollte von denjenigen gelöst werden, die es verursacht haben. Die EU sollte den ersten Schritt gehen, dann wird die chinesische Seite sicherlich auch darauf reagieren.
SPIEGEL: Bedauern Sie, dass Frau Merkel nicht mehr Kanzlerin der Bundesrepublik ist?
Botschafter Wu: Gute Frage. In der Amtszeit von Frau Merkel haben sich die bilateralen Beziehungen zwischen China und Deutschland sehr intensiviert. Dazu hat die Kanzlerin persönlich einen wichtigen Beitrag geleistet. Das wissen wir sehr zu schätzen. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass manche Medien in Deutschland kritisiert haben, Frau Merkel sei angeblich zu chinafreundlich. Dazu sage ich folgendes: Was Frau Merkel in den vergangenen 16 Jahren getan hat, tat sie als deutsche Bundeskanzlerin, nicht als chinesische. Wir sind fest davon überzeugt, dass die guten bilateralen Beziehungen unter Bundeskanzler Scholz fortgesetzt werden können.