Das große Erdbeben in Sichuan vom Mai verursachte nicht nur große Verluste an Mensch und Eigentum, sondern auch an Denkmälern sowie am immateriellen Kulturerbe. Schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde insbesondere das Kulturerbe der nationalen Minderheiten, wie zum Beispiel jenes der Qiang-Nationalität.
Die Regierungen der verschiedenen Ebenen bemühen sich beim Wiederaufbau der Katastrophengebiete zusammen mit den Experten, die kulturellen Besonderheiten der Nationalitäten wiederherzustellen.
Die Qiang-Nationalität ist eine der ältesten Nationalitäten Chinas mit einer über 3000-jährigen Geschichte. Die Vorfahren der Qiang lebten hauptsächlich in der nordwestchinesischen Grenzregion. Später siedelten sie allmählich in die Provinz Sichuan über. Die Qiang wohnen gerne in Steinhäusern auf halber Höhe eines Berges und werden deshalb auch als "Nationalität auf der Wolke" bezeichnet. Die sogenannten "Diaolous", auffällige Gebäude, die am Rande von Siedlungen oder auf Berggipfeln gebaut werden, sind die traditionellen Bauten der Qiang-Nationalität. Sie nehmen sowohl in der chinesischen als auch in der globalen Architekturgeschichte eine besondere Stellung ein. Auch Gesang und Tanz, Kleidung und Schmuck sowie Instrumente der Qiang weisen den typischen Charakter dieser Nationalität auf.
Die Qiang-Nationalität besteht derzeit aus über 300.000 Angehörigen. Mehr als 80 Prozent von ihnen leben in den Kreisen Maoxian, Lixian, Wenchuan, Heishui und Beichuan, die unglücklicherweise alle schwer vom großen Erdbeben vom 12. Mai getroffen wurden. He Wangquan, ein Qiangdi-Künstler, entkam dem Erdbeben. Er erzählt uns über die kulturellen Schäden, welche die Naturkatastrophe angerichtet hat:
"Ein Teil der Bauwerke in meiner Heimat, wie zum Beispiel die Diaolous, ist eingestürzt. Der Schaden an den Museumsobjekten im Kreis Maoxian ist groß. Zahlreiche Dokumente über Musik und Tanz wurden unter den Trümmern begraben. Das Kulturhaus des Kreises Beichuan wurde dem Erdboden gleich gemacht. Sämtliche Mitarbeiter kamen ums Leben. Ich war mit allen gut befreundet."
Die Qiang-Nationalität besitzt zwar eine eigene Sprache, aber keine Schrift. Die traditionelle Kultur ist deshalb nur mündlich überliefert worden. Die Anzahl der Hüter der Kultur und Kunst der Qiang, die durch das Erdbeben ums Leben kamen, ist bisher leider noch nicht bekannt.
He Wangquan hat sich als Bewahrer der Kunst der Qiang seit längerer Zeit um den Schutz und die Überlieferung der Kunst seiner Nationalität eingesetzt. Die charakteristische Qiang-Flöte beispielsweise stellt er in Eigenregie her.
Zur Gewährleistung der idealen Klangfarbe der Qiang-Flöte, die so lang wie ein Bleistift ist, muß zuerst der Pfeilbambus, der in einer Höhe von über 3.000 Meter über dem Meeresspiegel wächst, gefällt werden. Danach wird das Bambusstück Monate lang in Speiseöl eingeweicht und in der Hand gerieben, bevor es weiter verarbeitet wird. He Wangquan setzt sich auch für das Sammeln und Einordnen von traditionellen Melodien der Qiang-Flöte ein. Zudem hat er an lokalen Schulen den Qiang-Flötenunterricht eingeführt und mehr als zehn Schülerinnen und Schüler als Lehrlinge unter seine Fittiche genommen.
Die Rettung des Kulturerbes der Qiang-Nationalität hat aber auch die Aufmerksamkeit der Regierung und Denkmalschützer auf sich gezogen. So forderte Ministerpräsident Wen Jiabao auf einer Pressekonferenz nach dem Erdbeben, die Kultur und Zivilisation der Qiang-Nationalität möglichst gut zu schützen. Bereits unmittelbar nach dem Erdbeben sandte das staatliche Denkmalschutzamt eine Expertengruppe zur Schadensbegutachtung in die Erdbebengebiete. Das Kulturministerium wiederum berief ein Symposium über Maßnahmen zum Schutz der Kultur der Qiang-Nationalität ein. Beim Wiederaufbau solle man sich bemühen, das alte Antlitz der Minoritätengebiete wiederherzustellen, meint Zhang Qingshan, stellvertretender Leiter des staatlichen Schutzzentrums für immaterielles Kulturerbe:
"Der durch die Naturkatastrophe verursachte Schaden ist kaum vorstellbar. Die Sitten und Bräuche in einem seit Generationen von den Qiang beziehungsweise Tibetern bewohnten Dorf sind stark abhängig von der Umwelt. Beim Wiederaufbau müssen wir die lokalen Sitten und Bräuche sowie den Willen der Einheimischen respektieren. Das alte Antlitz des Dorfes muß wiederhergestellt werden. Es darf keinesfalls ein Dorf entstehen, das mit den Angehörigen der lokalen nationalen Minderheiten nichts zu tun hat."
Zhou Heping, stellvertretender chinesischer Kulturminister, gab vor der Presse bekannt, in der Provinz Sichuan werde ein großes Schutzrevier für die Kultur der Qiang-Nationalität entstehen, wo Architektur, Folklore sowie Opferzeremonien der Qiang geschützt seien. Mit dem Kreis Maoxian als Zentrum umfasse das geplante Schutzrevier mehrere von der Katastrophe heimgesuchte Städte und Kreise, darunter Beichuan, Lixian und Wenchuan. Zhou Heping nimmt wie folgt über das geplante Projekt zum Schutz der Qiang-Kultur Stellung:
"Das Kulturministerium hat die Gründung des Schutzreviers schon in die Wege geleitet. Experten sind momentan dabei, Materialien zu sammeln und die Machbarkeit des Projekts zu prüfen. Der Planung und dem Bau von Museen für das materielle und immaterielle Kulturerbe muss große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hierbei muss insbesondere die Meinung der Fachleute sowie der lokalen Bevölkerung berücksichtigt werden."
Der 59-jährige Yu Guangyuan ist ein Bewahrer des traditionellen Shalang-Tanzes der Qiang-Nationalität. Er wohnt im Kreis Maoxian, im Zentrum des Schutzreviers. Seiner Meinung nach ist das Konzept des Schutzreviers machbar:
"Das Konzept ist wissenschaftlich durchführbar. Im Kreis Maoxian leben die meisten Angehörigen der Qiang-Nationalität. 80 Prozent von ihnen sprechen ihre eigene Sprache. Hier sind Architektur, Musik, Kleidung, Schmuck sowie die Eßkultur der Qiang relativ gut erhalten geblieben. Maoxian kann mit vollem Recht zum Zentrum des Schutzreviers ernannt werden."
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