Fast niemand hegt Zweifel daran, dass die Qinghai-Tibet-Eisenbahn für die wirtschaftliche Entwicklung Tibets von epochaler Bedeutung ist. Seit der Freigabe des letzten Streckenabschnittes zwischen Golmud und Lhasa trägt sie dazu bei, die Wirtschaft im Autonomen Gebiet Tibet zu verändern und die Entwicklung der Region aus eigener Kraft voranzutreiben. Aber auch ein Boom im Tourismusbereich in Tibet und in der Region entlang der Strecke wurde durch die Bahnstrecke ausgelöst.
Alfred Payrleitner, Kommentator der österreichischen Tageszeitung "Kurier", ist Mitglied eines österreichischen Journalistenteams, das vor kurzem mit der Eisenbahn von Beijing nach Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebietes Tibet, gefahren ist:
"Wegen meiner Größe sind mir alle Züge immer zu klein. Aber ich muss sagen, ich habe noch niemals solch einen Zug erlebt! Wenn ich in der Nacht einschlafe oder wenn ich aufwache, kann ich nicht erkennen, ob der Zug fährt oder steht. Es ist so leise wie beim Fliegen, beim lautlosen Fliegen. Ich bin sehr beeindruckt."
Beeindruckt sind die Österreicher vor allem von den enormen Herausforderungen, mit denen die chinesischen Eisenbahnbauer konfrontiert waren. Die Gleise führen über abgelegene, erdbebengefährdete Hochebenen, über die eisige Winde fegen. Die Luft ist dünn in dieser Höhe, und ein langer Streckenabschnitt musste auf Permafrostboden verankert werden. Das heißt, der Untergrund ist ständig gefroren, nur im Sommer taut er an der Oberfläche ein wenig auf.
Dazu sagt Wang Changyuan, Zugführer des Beijing-Lhasa-Express Nummer 27:
"Der Bau der Qinghai-Tibet-Eisenbahn ist in jeder Hinsicht ein Wunder. 960 Kilometer der insgesamt 1.142 Kilometer langen Eisenbahnstrecke verlaufen in einer Höhe von über 4.000 Metern Höhe. Dazu zählt ein Abschnitt mit einer Länge von 550 Kilometern, der durch menschenleeres Gebiet führt. Die Arbeiten an dieser Strecke dauerten rund drei Jahre. Dabei mussten wir drei große Schwierigkeiten überwinden, nämlich den Permafrostboden, die dünne Luft und die Anfälligkeit der ökologischen Umwelt."
Allerdings beschränkt sich das Problem des geringen Sauerstoffanteils in der Luft keinesfalls auf die Bauphase. Nicht jeder Passagier verträgt körperlich die dünne Luft. Deshalb wird in denen von einem chinesisch-kanadischen Gemeinschaftsunternehmen gebauten Waggons Sauerstoff in die Abteile gepumpt. Auch fährt in jedem Zug ein Arzt mit. Dazu noch einmal Wang Changyuan, Zugführer des Beijing-Lhasa-Express Nummer 27:
"Die Versorgung mit Sauerstoff in Form vom Pumpen ist für die Bedürfnisse der Passagiere mehr als ausreichend. Sollte das trotzdem noch nicht ausreichen, können die Passagiere einzelne Sauerstoffspender benutzen. Jeder Passagier hat also einen zusätzlichen, eigenen Zugang zu einer Sauerstoffversorgung. Seit der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke zwischen Goldmud und Lhasa am 1. Juli 2006 nutzten jedoch nur wenige Passagiere diese zusätzlichen Sauerstoffspender."
Chinesische Unternehmen entwickelten zusammen mit dem kanadischen Konzern Bombardier im ostchinesischen Qingdao die Waggons, die den Massentourismus durch dieses Gebiet hindurch erst möglich machten. Die Abteile sind zudem gegen UV-Einstrahlung geschützt. Das kanadische Unternehmen Nortel lieferte die Kommunikationstechnologie für die Züge. Die Lokomotiven kommen vom US-Konzern General Electric. Auf der Fahrt werden die 15 Waggons aus Gründen der Sicherheit von drei aneinandergekoppelten Dieselloks gezogen, die zusammen 11.000 PS auf die Schiene bringen.
823 Fahrgäste finden in den 15 Waggons Platz. Startbahnhöfe sind neben Beijing auch Chongqing sowie Chengdu in der südwestchinesischen Provinz Sichuan, Lanzhou in der nordwestlichen Provinz Gansu und Xining in der Provinz Qinghai, ebenfalls im Westen des Landes.
Vor der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke war das Flugzeug das Hauptverkehrsmittel für Tibet-Reisende. Die Beförderungskapazität war somit beschränkt und die Flugtickets waren relativ teuer. Über die Kosten der Zugfahrt sagt Zugführer Wang Changyuan:
"400 Yuan RMB kostet die Fahrkarte für einen Sitzplatz zweiter Klasse von der chinesischen Hauptstadt nach Lhasa. Für ein Bett in einem Viererabteil müssen Fahrgäste 800 Yuan, in einem Zweierabteil 1.200 Yuan bezahlen. Ein Flug von Beijing nach Lhasa kostet hingegen 2.430 Yuan."
Eine Fahrkarte für die Qinghai-Tibet-Eisenbahn ist nicht nur billiger als ein Flug. Die Zugfahrt ermöglicht es dem Touristen auch, unterwegs die wunderbare Landschaft zu bewundern. Durch spezielle Panoramafester hindurch lassen sich unberührte Seen, schneebedeckte Berge, Yakherden und Wildtiere fotografieren. Doch die Reise soll noch angenehmer werden. Ein internationales Konsortium plant nämlich, auf der Bahnstrecke ab Anfang 2008 rechtzeitig zum Beginn des Olympiajahres in China ein Fünf-Sterne-Hotel auf Schienen in Richtung Lhasa zu schicken. Das kanadische Unternehmen Bombardier soll dazu zusätzlich 53 Waggons bauen und sie in rollende Luxussuiten verwandeln.
Aber selbst ohne diesen vergleichsweise voreiligen Plan hat das Autonome Gebiet Tibet bereits mit einem Mal den Mythos der Unerreichbarkeit verloren. Der Bau der Eisenbahn in weniger als fünf Jahren hat zugleich den letzten weißen Fleck in der chinesischen Eisenbahngeschichte getilgt. Der gesamte Verkehr lief vorher noch über Landstraßen oder wurde mit dem Flugzeug bewältigt, wodurch diese Verkehrswege stark belastet wurden. Die notwendigen Voraussetzungen für eine befriedigende wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des autonomen Gebietes konnten deshalb nicht in genügendem Maße geschaffen werden. Aus diesem Grund blieb Tibet lange Zeit das Gebiet in China mit der rückständigsten Wirtschaft.
Seit der Fertigung der auf dem Hochland verlaufenden Eisenbahnstrecke haben sich die Bedingungen für den Personenverkehr und den Warentransport wesentlich verbessert. Gleichzeitig veränderte sich auch die Energiestruktur im Autonomen Gebiet Tibet.
Experten sind der Ansicht, dass die Qinghai-Tibet-Eisenbahn die Zusammenarbeit der lokalen, plateaubezogenen Wirtschaft mit der Wirtschaft im Landesinneren fördert. Dank der Eisenbahn können Waren nun schneller und billiger als bisher nach und aus Tibet transportiert werden. Tibetische Bergbauprodukte, tibetische Medizin, Agrar- und Viehzuchterzeugnisse, tibetische Handwerkswaren und vieles mehr kann dank dieser Eisenbahnstrecke nun überall angeboten werden. Wenn man größere Mengen der einzigartigen Produktpalette des Qinghai-Tibet-Plateaus per Bahn in andere Teile des Landes transportieren kann, so erhöht sich zweifelsohne die wirtschaftliche Effizienz des Autonomen Gebietes Tibet.