Die Dichtkunst der Tang-Zeit, die von 618-907 nach Christus währte, gilt in China als die vollendete Dichtkunst, bis heute wird sie hochgeschätzt. In China hatte das geschriebene Wort immer eine große Bedeutung. Da die chinesischen Schriftzeichen sich aus einer Bilderschrift entwickelt haben, sind sie nicht nur Lautvermittler, sondern transportieren auch eine Bedeutung. Daher ist es kaum verwunderlich, dass das Geschriebene in China immer so bedeutungsvoll war. Gedichte spielten im sozialen Leben der Chinesen immer eine große Rolle. Gedichte lesen und schreiben zu können, gehörte zum elementaren Bildungsprogramm der gehobenen Stände. Studenten und Beamte in allen Stellungen und jeden Alters mussten in jeder Lebenslage und zu jedem Anlass ein Gedicht verfassen können. Mädchen und Frauen, die Gedichte graziös vortragen oder singen konnten, wurden geachtet und bewundert. Wir machen heute mit Ihnen einen Ausflug in die Provinz Anhui, nach Caishiji. Hier hat der berühmte Dichter Li Bai oft gesessen und seine berühmten Gedichte verfasst.
Wir besuchen heute Caishiji in der Provinz Anhui. Hier steht auf einer Insel mitten im Yangtze eine Gedenkstätte für Li Bai, einen der größten Dichter der Tang-Dynastie.
"Erbaut wurde der Turm Taibailou bereits während der Tang-Dynastie (618-907 unserer Zeitrechnung). Da Caishiji im Altertum ein Kriegsschauplatz war, wurde der Turm mehrfach durch Kriege beschädigt. Das Bauwerk, das wir heute sehen, entstand im Jahr 1877. Der Turm hieß ursprünglich Zhexian-Turm. Da Li Bai unglaublich gute Gedichte schreiben konnte, nannte ihn He Zhizhang, ebenfalls ein bekannter Dichter der Tang-Dynastie, Zhexian, eine vom Himmelsgott auf die Erde verbannte Gottheit."
Die Tang-Dynastie kann als goldenes Zeitalter für Chinas Poesie angesehen werden. Zu keiner anderen Zeit gab es eine so große Anzahl von Dichtern und so viele gute Gedichte, wie während der Tang-Dynastie. Im Quan Tangshi, der Sammlung aller Gedichte der Tang-Dynastie, sind mehr als 48.000 Gedichte von 2.200 Dichtern verzeichnet. Diese Sammlung wurde im 18.Jahrhundert auf Anweisung des Kaisers Kangxi zusammengestellt.
Einer der berühmtesten Dichter dieser Zeit war Li Bai, der seine schönsten Gedichte im Zustand der Volltrunkenheit verfasst haben soll.
Li Bai war ein Naturtalent, seine Gedichte sind in erstaunlich freier Sprache formuliert, offen im Ausdruck und meist humorvoll. Li Bai war ein Naturliebhaber und stand den Daoisten nahe. Über ihn heißt es, dass er sogar bei seiner Ernennung zum kaiserlichen Beamten betrunken war, aber trotzdem aus dem Stehgreif ein Gedicht vortragen konnte.
Li Bai liebte die Natur und reiste viel. Besonders die Berge der Provinz Anhui haben ihn immer wieder angezogen.
Mitten im Yangtze bei Ma'anshan steht ein Berg. Auf diesem Berg hat Li Bai sehr gern gesessen und geschrieben. Hier hat er viele seiner schönsten Gedichte verfasst. Zurückgezogen, den Fluss zu Füßen, den Mond und den Sternenhimmel über sich, so konnte er am besten dichten.
"Li Bai liebte den Mond sehr. In seinen mehr als 1.000 Gedichten hat er ungefähr 500 Mal den Mond besungen."
Eins seiner schönsten Gedichte besingt das gemeinsame Trinken mit dem Mond und mit seinem eigenen Schatten:
Einsamer Trunk unter dem Mond
Unter Blüten meine Kanne Wein -
Allein schenk ich mir ein, kein Freund hält mit.
Das Glas erhoben, lad den Mond ich ein,
Mein Schatten auch ist da, - wir sind zu dritt.
Gewiss versteht der Mond nicht viel von Wein,
Und was ich tue, tut der Schatten blind,
Doch sollen sie mir heut Kumpane sein
Und ausgelassen unterm Frühlingswind.
Ich singe und der Mond schwankt hin und her,
Ich tanze und mein Schatten hüpft noch mehr.
Wir sind uns Freunde, da wir nüchtern sind,
Ein jeder geht für sich, wenn erst der Rausch beginnt.
Nichts bleibt dem Herzen ewiglich verbunden,
Als was im hohen Sternenlicht gefunden.
Von diesem Gedicht gibt es mehrere Übersetzungen ins deutsche. Wir haben und für die Übersetzung von Günter Eich entschieden.
Li Bai war in seiner Zeit eine große Ausnahme, denn obwohl er die kaiserliche Beamtenprüfung ablegte, strebte er nie eine Karriere als kaiserlicher Beamter an. Er führte lieber ein unstetes Wanderleben, nachdem er drei Jahre am Kaiserhof zugebracht hatte. In seinen Gedichten findet sich auch Kritik an der Obrigkeit Chinas zur damaligen Zeit.
Li Bai sah der Überlieferung zufolge ganz gern mal etwas zu tief ins Glas. Und über seinen Tod gibt es daher auch recht unterschiedliche Varianten: Eine lautet, der Dichter sei im Zustand der Trunkenheit ausgerutscht, ins Wasser gefallen und ertrunken. Eine andere gibt seinen Tod in Form einer schönen Legende wieder. Hören Sie die Geschichte:
"Einer Legende zufolge saß der Dichter Li Bai abends am Wasser und dachte nach. Während sein Blick über das Wasser streifte, nahm er den einen oder anderen Schluck zu sich. Als Li Bai betrunken war, sah er die Widerspiegelung des Mondes im Wasser des Yangtze und dachte irrtümlicherweise, der Mond sei ins Wasser gefallen. Da er den Mond so sehr liebte, besann er sich nicht lange und sprang ins Wasser, um den Mond vor dem Ertrinken zu retten. Unglücklicherweise ist er dabei selbst ertrunken."
Nach seinem Tod wurde ein Ehrenmal für Li Bai aufgestellt. Allerdings wurde seine Todesursache meist verschwiegen, weil Ertrinken in China als unehrenhafter Tod gilt.
"Viele Experte und Wissenschaftler sind der Meinung, dass Li Bai tatsächlich in Caishiji ertrunken ist. Kurz nach seinem Tod wurde nämlich hier in Caishiji, und nicht in seiner Heimat Longshan, eine Gedenkstätte für den Dichter erbaut. Ebenfalls in Caishiji wurde während der Tang-Dynastie ein Zenotaph, also ein Grabmal zu Ehren des Li Bai errichtet. Da Ertrinken nach traditioneller Vorstellung der Chinesen ein unglückverheißender und unehrenhafter Tod ist, wurde die Todesursache Li Bais verheimlicht."
Der Dichter Li Bai wird auch heute noch hoch gehrt. Seit dem Jahr 1989 wird in Maanshan jährlich das Li Bai Dichter-Festival veranstaltet.