Chen Yans Großmutter bemühte sich nach Kräften, sie möglichst normal aufwachsen zu lassen. Sie schulte Chen Yans Hör- und Tastfähigkeit in besonderem Maße, damit Chen Yan diese quasi als "Ersatz ihres Augenlichts" nutzen konnte.

Als Chen Yan vier Jahre alt war, lernte sie von der Großmutter, nach ihrem Gehör zu gehen. Ein anderes Mal warf die Großmutter verschiedene Münzen auf den Boden, und Chen Yan sollte sie nach den unterschiedlichen Geräuschen, die die Münzen auf dem Boden machten, auseinander halten. So lernte sie 1 fen, 2 fen und 5 fen "zu hören".Um ihren Tastsinn zu trainieren, ließ ihre Großmutter sie einen Faden in eine Nähnadel einfädeln. Anfangs war das sehr schwer. Chen Yan stach sich oft an der Nadel, und ihre Hände waren voller Wunden. Dieses harte Training aber führte zu einer besonders guten Ausbildung ihrer auditiven und haptischen Wahrnehmung und half Chen Yan in ihrem späteren Leben im großen Maße. Es war die Grundlage für ihre spätere Karriere als Klavierstimmerin. Ihren beruflichen Erfolg verdankt Chen Yan der fundierten Schulung durch ihre Großmutter. Wenn Chen Yan von dieser Zeit erzählt, wird ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer Großmutter deutlich:

"Meine Großmutter hat in meinem Leben den größten Einfluss auf mich ausgeübt. Umgeben von ihrer Liebe bin ich aufgewachsen. Als ich klein war, hatte meine Großmutter immer Angst, dass ich verhungern könnte. Deshalb wollte sie einen Menschen aus mir machen, der viele Fertigkeiten beherrscht. Meine Großmutter hat stets zu mir gesagt, es gebe keine unerreichbaren Ziele im Leben. Wenn man etwas lernen will, kann man es erlangen, wenn man sich auch wirklich darum bemüht."

Als Chen Yan 13 Jahre alt war, konnte sie glücklicherweise in eine Beijinger Grundschule für blinde Kinder gehen. Von klein auf hatte sich Chen Yan für Musik begeistert. Sie beherrschte schon mehrere Musikinstrumente. Aus diesem Grund interessierte sie sich auch für den Klavierstimmkurs, der an ihrer Blindenschule angeboten wurde. Dort wurde moderne amerikanische und europäische Klavierstimmtechnik unterrichtet, die erst Anfang der 90er Jahre in China eingeführt worden war. Während des Lernens in der Blindengrundschule nahm Chen Yan an dem Klavierstimmungskurs teil. Dieses Erlebnis war zuerst alles andere als ermutigend für das junge Mädchen.

"Anfangs dachte ich, ein Klavier zu stimmen wäre bestimmt ebenso einfach wie Klavier zu spielen. Aber dem war ganz und gar nicht so. Ein Klavier besteht aus mehr als 8.000 Einzelteilen. Man muss genau wissen, wie sie im Klavier angeordnet sind, damit man die einzelnen Teile ausbauen, reparieren und wieder einsetzen kann. Es fiel mir schwer, mir zu merken, welche Aufgabe jedes Einzelteil hatte und was ich damit tun sollte. In unserem Kurs machten wir beinahe Tischlerarbeit, wenn wir die Einzelteile nachbauten oder reparierten. Meine Hände hatten wieder mal zahlreiche Wunden."

Es ist schon für einen sehenden Menschen schwer, die über 8.000 Teile eines Klaviers gut zu kennen, aber zur Not kann derjenige eben nachschauen. Chen Yan hat bei allem, was sie tat, nie daran gedacht, dass sie blind ist. Sie übte täglich 14 bis 15 Stunden, Klaviere zu stimmen. Mit viel Disziplin und dem Selbstvertrauen, das von ihrer Großmutter immer bestärkt worden war, erlernte Chen Yan schließlich die Technik des Klavierstimmens und -reparierens meisterhaft.

Mit 22 Jahren schloss sie den ersten Klavierstimmer-Kurs für Blinde in China erfolgreich ab. Allerdings akzeptierte die chinesische Gesellschaft damals noch keine blinden Klavierstimmer. Chen Yan bewarb sich reihenweise um eine Arbeitsstelle, aber keiner wollte sie einstellen. Irgendwann schickte Chen Yan ihre Bewerbung an ein großes Klavierstimmunternehmen. Der Manager wollte, dass sie zuerst ein Klavier stimmte. Er überprüfte Ihre Arbeit sorgfältig und war sehr zufrieden mit ihr. Sie bekam die Stelle. Chen Yan arbeitet sehr fleißig und hält ihre Zusagen an die Kunden immer ein. Ihre hervorragende Technik hat ihr bei den Kunden Akzeptanz verschafft. Um anderen Behinderten zu helfen, hat Chen Yan eine Klavier-Service-Hotline eröffnet. Dazu sagte sie:

"1996 habe ich die Klavier-Service-Hotline eröffnet. Damals hieß es noch das Klavier- Lern- Hotline. Ich möchte meine Freizeit nutzen, um anderen durch meine Kenntnisse und Erfahrungen zu helfen."

Chen Yan hat Menschen, die ihr Schicksal teilen, nicht vergessen. Anderen helfen zu können, ist ihre größte Freude. Im Jahre 2004 schrieb Chen Yan ihre Autobiographie. Der Titel lautet: "Chen Yan, die Welt am Ohr". Um dieses Projekt zu verwirklichen nutzte sie einen Computer mit einem so genannten Sprachlautsystem. Chen Yan erzählte ihr Leben, mit allen Erfolgen und Rückschlägen, um andere Behinderte anzuspornen. Im gleichen Jahr gründete sie die Beijinger Xinyue Klavierstimmergesellschaft. Chen Yan hat seit mehreren Jahren einen Traum. Sie will eine Klavierstimmergesellschaft etablieren, die zu einer chinesischen Marke mit ausgewiesener Qualität wird. Dazu erklärt sie:

"Manche Leute gründen Gesellschaften, um damit Geld zu verdienen. Ich habe das völlig ignoriert. Ich gebe den Profit direkt an die Klavierstimmer weiter. Meine Gesellschaft ist eine landesweit agierende Firma, was helfen soll, ihren Einfluss auszubauen. Ich habe gehört, dass das Klavierstimmen durch Blinde in Europa und Amerika seit über 100 Jahren praktiziert wird. In China gibt es das erst seit 12 Jahren. Ich war die erste blinde Klavierstimmerin Chinas. Wenn wir uns weiter bemühen, werden wir in den nächsten Jahren in China sehr bekannt werden. Mein Ziel ist, eine berühmte chinesische Klavierstimmergesellschaft mit dem Namen "Chen Yan Klavierstimmer" aufzubauen, die für ihre herausragenden Klavierstimmer bekannt wird. Das will ich erreichen."