Y: Lass uns doch mal über die chinesische Redewendung ?Fünfzig Schritte lachen über hundert Schritte" reden. W: Gerne, aber am besten erzählst Du erst einmal die Geschichte dazu. Y: König Hui von Liang, der zur Zeit der Streitenden Reiche lebte, also von 476 bis 221 vor unserer Zeit, war ein ausgesprochen kriegslüsterner Herrscher, daher ja auch der Name der Dynastie. Häufig griff er die Nachbarländer an und machte so seinem Volk das Leben schwer. So, und eben dieser König Hui unterhielt sich nun eines Tages mit dem berühmten chinesischen Philosophen und Gelehrten Meng Zi, im Westen auch als Menzius bekannt. Der König hatte etwas auf dem Herzen und brauchte den Rat des weisen Gelehrten. Also fragte er: W: ?Bei der Besorgung der Staatsgeschäfte tue ich, so kann man wohl sagen, mein Bestes. Ist die Ernte in Henei nicht gut, so siedle ich die Bevölkerung nach Hedong um und lasse Getreide zur Hilfe nach Henei schaffen. Ist die Ernte in Hedong nicht gut, so verfahre ich umgekehrt. Aber wenn ich die Nachbarländer betrachte, wo man sich nicht so wie ich um das Volk kümmert, so scheint sich die Bevölkerung dort dennoch nicht zu verringen. Andererseits scheint aber mein Volk auch nicht zu wachsen. Woran mag das wohl liegen?" Y: Meng Zi war, wie gesagt, ein großer Gelehrter und Philosoph, und war zudem weise. Also sagte er: W: ?Großer König, du führst gern Krieg, deshalb gebe ich ein Beispiel aus einer Schlacht: Die Kriegstrommeln dröhnen und die Soldaten stürmen gegen die feindliche Stellung. Beide Seiten beginnen miteinander zu kämpfen. Als die eine Seite zu verlieren beginnt, werfen deren Soldaten Helme und Panzer weg und rennen mit ihren Schwertern und Lanzen fort. Einige bleiben erst nach hundert Schritten stehen, andere schon nach fünfzig Schritten. Wenn nun die Leute, die fünfzig Schritte weggelaufen sind, über die lachen, die hundert Schritte weit gelaufen sind, täten sie das deiner Meinung nach zu Recht?" Y: König Hui brauchte nicht lange zu überlegen, schließlich kannte er sich ja aus mit Kriegen. Also erwiderte er auf die Frage des Weisen, ob diejenigen, die nur fünfzig Schritte gerannt waren, das Recht hatten, über die zu lachen, die hundert Schritte weggelaufen waren: W: ?Natürlich nicht. Sie sind zwar keine hundert Schritte gelaufen, aber sie haben genauso Reißaus genommen." Y: Da lächelte Meng Zi sehr weise und sagte: W:?Großer König, wenn du das verstehst, dann solltest du eigentlich auch nicht erwarten, dass dein Volk die Nachbarvölker an Zahl übertrifft. Zwar kümmerst du dich um dein Volk, aber du liebst auch den Krieg, und im Kampf fallen die Menschen zu Tausenden und Abertausenden. Ist das nicht auch wie ?Fünfzig Schritte lachen über hundert Schritte', wenn du mit deinen Nachbarländern Vergleiche anstellst?" Y: So hatte also der weise Meng Zi seinem König klargemacht, dass niemand einen anderen verlachen sollte wegen seiner Schwächen, wenn er denn die gleichen Schwächen hat, nur vielleicht nicht ganz so ausgeprägt. Wer fünfzig Schritte wegrennt, hat keinen Grund, über jemand zu lachen, der hundert Schritte wegrennt ? denn weggerannt sind schließlich beide. Im Deutschen gibt es übrigens eine ähnliche alte Redewendung, aber etwas drastischer: Ein Esel schimpft einen anderen Langohr. W: Ja, und soviel zur chinesischen Redewendung ?Fünfzig Schritte lachen über hundert Schritte". Damit schließen wir für heute auch unsere Rubrik ?Geflügelte Worte in China", anschließend geht es nämlich gleich um unser kleines Quiz.
