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Der Internetzerstörer von Shandong
  2016-09-06 15:59:06  cri

 

Schämen können wir uns theoretisch ab dem zweiten Lebensjahr, denn vorher sind wir kognitiv nicht dazu fähig, da es ein Ich für uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht gibt. Doch sobald dieses Ich da ist, und man mit sich nicht mehr allein ist, wird es immer mal wieder brenzlig, für den einen mehr, für andere weniger. Fachleute sagen, dass die Scham die Gesellschaft zusammenhält, Recht und Unrecht fester etabliert. Doch Scham hat viele Facetten, heute gefühlt mehr als früher, vor allem durch das Internet.

Herrn Liu aus Weifang in Shandong ist etwas passiert, das jedem passieren könnte. Er hat etwas gemacht, das er in dem Moment für richtig hielt, für unbedenklich, was sich im Nachhinein aber als gegenteilig erwies. Und dafür hat er sich geschämt. Sehr sogar. Mitte August wurde Liu laut einem Bericht auf NetEase von der Polizei festgenommen, nachdem er der Zerstörung diverser Telekommunikationskästen überführt wurde.

Gleich vier Telekom-Boxen hatte der Mann auseinandergenommen, umgerechnet fast 13.500 Euro Schaden angerichtet, nachdem er viele Wochen zuvor etwas getan hatte, was er als so peinlich empfand, dass er große Angst hatte, es könnte sich im Internet verbreiten und damit für mehr Leute als die Nachbarschaft sichtbar werden. Bei dem für Liu so traumatischen Ereignis handelte es sich um nichts weiter als ein Tänzchen mit den Damen am Platz.

广场舞Guangchangwu, der Platztanz, gehört zu China wie die Stäbchen und der Reis. Das dachte sich auch Liu und reihte sich, neu in der Nachbarschaft, mit bei den Tänzerinnen ein. Der Integrationsversuch missglückte, denn das Lachen aus den Zuschauerreihen war Liu zufolge kein wohlgesonnenes. Ausgelacht habe man ihn und Fotos und wahrscheinlich sogar Videos gemacht. Vor ein paar Jahren wäre das keine große Sache gewesen. Die Lacher wären irgendwann verklungen, vielleicht hätte man sich ein, zwei Tage lang noch an Liu erinnert. Doch die schier grenzenlose Darstellungssucht im Internet, auf Blogs oder diversen sozialen Plattformen, die die Menschen heute fest im Griff hält, kann temporäre Peinlichkeiten zu einem langanhaltenden Fluch anwachsen lassen. Eine Kontrolle gibt es nicht. Oder doch?

Wochenlang treibt Herrn Liu die Unruhe, bis er es nicht mehr aushält und ganz sicher gehen muss, der öffentlichen Blamage zu entkommen. Das Internet vergisst nicht. Und deshalb musste das Internet weg. Wenn er nur geahnt hätte, dass seine Aktion gleich doppelt nach hinten losgehen würde. Anstatt Handys filmten CCTV-Kameras den verzweifelten Angriff auf die Datenübertragung und damit erregte er weitaus mehr Aufmerksamkeit als beim Stelldichein mit der lokalen Tanztruppe. Denn das hatte es weder vor noch nach der Kabelattacke in soziale Netzwerke geschafft.

Text von Marie Müller-Diesing

Fotos via Shanghaiist.com

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