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Von der Transzendenz der Kunst: Alexander Kluge und Gerhard Richter in Beijing
  2016-05-23 09:23:21  cri

 

Können Bilder sprechen? Gibt es abbildende Worte? Die Ausstellung „Nachricht von ruhigen Momenten", die bis August 2016 im Beijing Culture and Art Center (BCAC) zu sehen ist, beantwortet diese beiden Fragen mit eindeutigem Ja. So klar sich dies den Besuchern erschließt, so erfrischend unscharf bleiben die Antworten auf viele weitere Fragen. Die Werke der im Zentrum stehenden beiden deutschen Großmeister der Gegenwart, Gerhard Richter und Alexander Kluge, evozieren Räume einer kreativen Stille. Sie geben keine eindeutigen Antworten, sondern werfen Fragen des Lebens und des Wandels auf, die zu tiefen Gedankengängen inspirieren. Es ist ein Kunstgenuss des Vagen bar jeglicher Restriktionen.

Richter und Kluge, beide Jahrgang 1932, verfassten gemeinsam zwei Bücher: „Dezember" im Jahr 2010 und „Nachricht von ruhigen Momenten" im Jahr 2013. Darin gehen die Worte des Schriftstellers und Filmemachers Alexander Kluge eine relativ unabhängige Montagebeziehung mit ausgewählten Bildern des Malers und Fotografen Gerhard Richter ein. Im Frühjahr dieses Jahres folgte die chinesische Übersetzung beider Werke. Das bereits in seiner deutschen Fassung bereichernde Aufeinandertreffen der Gedanken beider Künstler erreicht mit der Übertragung ins Chinesische eine weitere Dimension. Cui Qiao, Leiterin des BCAC, gab den ursprünglichen Anstoß zur Übersetzung der Bücher und konzipierte die daran anknüpfende Ausstellung. Sie arbeitete viele Jahre in höchsten Künstlerkreisen Deutschlands und kehrte durch viele Erfahrungen bereichert nach China zurück. So ist der Ausgangspunkt zu dem diesmaligen Projekt auch ein ganz persönlicher:

„Das Unbekannte hat für mich eine starke Anziehungskraft. Damals entdeckte ich in Berlin diese zwei Bücher der beiden über 80 Jahre alten Künstler. Es stellten sich mir viele Fragen: Was genau haben diese beiden Meister hier geschaffen? Wie kam es zu der Zusammenarbeit an diesem interdisziplinären Projekt? (...) Ich ließ mich auf den Erkundungsprozess ein und gewann ganz eigene Eindrücke. Mit dieser Ausstellung möchte ich meine Wertschätzung den Künstlern und ihren Büchern gegenüber mit den Besuchern teilen. Sie ist keine klassische Kunstausstellung, sondern vielmehr etwas sehr Persönliches. Ich teile etwas, was meine Seele tief berührt hat. (....) Die Konzipierung dieses Projektes erstreckte sich über zwei Jahre. Es wurde damit für uns wie ein Kind, das man voller Liebe großzieht."

Ansprache von Cui Qiao (weitere Personen von links nach rechts: Vorsitzender des Goethe-Instituts Beijing Dr. Clemens Treter, Professor Wang Hui, Botschafter Michael Clauss mit Dolmetscherin)

Mit Eintritt in das im Herzen der Oststadt Beijings gelegenen BCAC wird diese Wertschätzung gegenüber der Kunst zum unmittelbaren Erlebnis. Der offene Vierseitenhof in einer historischen Seitengasse gegenüber des Lama-Tempels wurde dezent in klaren Linien renoviert. Die Räumlichkeiten harmonieren vollkommen mit dem Ausstellungskonzept – Offenheit der Gestaltung, der Wahrnehmung, des Erlebens und des Austauschs. Das Zentrum bietet eine Plattform, auf der die Kunst zu Leben erwacht und den Betrachter zu eigenen Gedanken inspiriert.

Sowohl Deutschland als auch China blicken auf lange Traditionen der Philosophie zurück, die sich ein freies Denken in diesem Sinne zum Ziel gemacht hat. In einer Diskussionsrunde am Abend der Ausstellungseröffnung erläutert Wang Hui, Professor am Institut für chinesische Literatur der renommierten Tsinghua-Universität, dass trotz aller offenkundigen Kulturdifferenzen zwischen Deutschland und China auch eminente Gemeinsamkeiten bestünden. So weise die künstlerische Konzeption der beiden Künstler mit einigen philosophischen Richtungen der chinesischen Klassik große Überschneidungen auf:

„Meiner Ansicht nach folgen diese Gemeinschaftswerke von Kluge und Richter einer bestimmten äußeren Form, in der die ursprünglichen Arbeiten der beiden Künstler zusammenkommen. Diese Form zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie alle immanenten Formen durchbricht – nämlich das Konzept, dass Malerei bildlich bleibt und Worte textbezogen sein müssen. In der klassischen chinesischen Philosophie besteht die Meinung, dass die durch Sprache hervorgerufenen Ungerechtigkeiten und damit die Vorherrschaft der Worte durchbrochen werden sollte. Ungleichheiten in unserer Gesellschaft basieren oftmals auf der Ebene des Wortes. So wird mithilfe der Sprache einem jeden Menschen und jedweden Gegebenheiten ein fester Platz innerhalb einer Struktur zugewiesen. In unserer Welt ist es jedoch undenkbar, die Sprache aufzugeben, es sei denn, wir kommen zu einem neuen Konzept, um Gedanken auszudrücken. Bild und Wort, so wie bei Kluge und Richter, können sich in ihrer Kombination parallel bewegen. Sie können sich allerdings auch begegnen oder kreuzen."

Professor Wang Hui ergänzt, mit Kluge und Richter würden die strengen Gesetze der Sprache transformiert, so dass sich jeder zufällige Gedanke manifestieren könne und auf diesem Weg seine Berechtigung erhalte. Eine solche Transformation komme einer großen Befreiung gleich.

Deutscher Botschafter in China Michael Clauss

In der Tat bereitet die Ausstellung einen Weg für Kommunikation in jeder denkbaren Richtung. Anknüpfend an die Montage der beiden deutschen Künstler wird ein Dialog auf unzähligen Ebenen ermöglicht – zwischen Bild und Text, zwischen Kunst und Betrachter, zwischen den betrachtenden Menschen und zwischen zwei Kulturen aus Denkern. In der Eröffnungsrede betont der deutsche Botschafter in China, Michael Clauss, die enorme Bedeutung eines solchen interkulturellen Dialogs:

„Es geht heute hier um den deutsch-chinesischen Kulturaustausch und der ist mir natürlich sehr wichtig. Wir wissen ja, dass wir sehr enge politische und wirtschaftliche Beziehungen haben zwischen Deutschland und China. China ist für uns der wichtigste Partner in Asien und wir sind umgekehrt der wichtigste Partner für China in Europa. (…) Wesentlich für unsere Beziehungen ist eben auch das Thema Kulturaustausch – dass sich die Menschen beider Kulturen begegnen können. Und da sieht man schon, Deutschland und China sind sehr unterschiedlich. Und deshalb sind wir auch darauf angewiesen, dass sich möglichst viele für die Kultur des jeweils anderen interessieren und dafür auch ein gewisses Verständnis entwickeln. Darum bin ich auch dankbar, dass wir heute hier die Möglichkeit haben, den Kulturaustausch voranzubringen."

Neben der deutschen Botschaft kommt dem BCAC Unterstützung von vielen Partnerinstitutionen zu, so auch durch das Goethe-Institut. Dr. Clemens Treter, Leiter des Goethe-Instituts in Beijing, erläutert, wie auf Grundlage eines eigenen Programms zum Verständnis des Werks der beiden deutschen Künstler beigetragen wird:

„Die Idee dieser Ausstellung, die beiden Bücher in eine Ausstellung zu wandeln, kam von Cui Qiao, die das BCAC leitet. Ich fand das sehr attraktiv und anregend. Wir haben daraufhin überlegt, wie wir das unterstützen können – nicht in dem Sinne, dass man etwas in der Finanzierung übernimmt, sondern auch, wie man die Ausstellung ein Stück größer machen kann. Dadurch arbeiten wir nun zusammen, so dass wir in unseren Räumen im 798 die Ausstellung sozusagen fortsetzen – einerseits dadurch, dass wir in unserem Grey Cube eine Videocollage zeigen, die Elemente der beiden Bücher aufnimmt, die auch noch einige Kurzfilme von Alexander Kluge beinhaltet. Wir zeigen dann auch eine kleine Retrospektive von Filmen Alexander Kluges, die von einem chinesischen Kurator Dong Bingfeng ausgewählt und zusammengestellt wurde, so dass es noch mehr Möglichkeiten gibt, in die Welt dieser beiden Künstler einzudringen."

Buchumschlag „Nachricht von ruhigen Momenten" in Form eines Mobiles

Nicht zuletzt durch die Veröffentlichung der unlängst fertiggestellten Übersetzung der beiden Gemeinschaftswerke bekommt das chinesische Publikum die Möglichkeit, Gedankenanstöße von Kluge und Richter bis nach Hause zu tragen. Zhou Yun, Hauptredakteur des Verlags Imaginist, einer Untergruppe der Guangxi Normal University Press, hat eine realistische Sicht auf die Zielgruppe:

„Die beiden Bücher werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur ‚Literatur der Massen' aufsteigen. Kluge und Richter offenbaren äußerst persönliche Inhalte – jeder auf seine ganz eigene Weise. Es geht nicht um praktisch anwendbares Wissen. Meiner Einschätzung nach wird sich nur ein kleiner Leserkreis für die beiden Werke interessieren. Innerhalb dieses Kreises, zu dem ich mich selbst zähle, werden sie hingegen umso stärker geschätzt werden. Deshalb geben wir die beiden Bücher auch zunächst erst einmal in einer Auflage von 6.000 Exemplaren heraus (…). In dieser Anfangsphase betreiben wir intensives Marketing. Zu den Podiumsdiskussionen mit vielen renommierten Literaten kommen weitere interaktive Projekte mit den Lesern, etwa die Kommunikation über den Instantmessenger WeChat und die chinesische Internetplattform Weibo. Ab Ende Mai werden beide Bücher zudem auch in den herkömmlichen Buchläden erhältlich sein."

Auf welche Weise die „Nachricht von ruhigen Momenten" empfangen wird, ist jedem Besucher demnach freigestellt. Einzig die Bereitschaft, sich auf neue Denkimpulse einzulassen, ist erforderlich. Cui Qiao betont zuletzt, sie wolle als Kuratorin den Besuchern keineswegs vorschreiben, wie die Werke zu verstehen seien. Viele Chinesen – insbesondere in der jungen Bevölkerung – strebten heute einen hohen Grad an Freiheit im Denken an. Die Ausstellung und die zugehörigen Projekte seien eine Einladung, Bild und Wort zu transzendieren, zu reflektieren und mit neuen Empfindungen zu sich selbst zurückzukehren.

Text und Bilder: Miriam Nicholls

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