„An quan dai!" – „Schnall dich an!" Auch nach sieben Jahren in China kann ich die Taxifahrer, die mich zur Benutzung des Sicherheitsgurts aufgefordert haben, noch immer an einer Hand abzählen. Weit häufiger gaben sie mir mit einem fast schon hysterischen „No, no, no!" zu verstehen, doch bitte meine Hände vom Gurt zu lassen. Der Grund für ihr merkwürdiges Verhalten: Wer sich angurtet, der fürchtet sich nach chinesischer Auffassung insgeheim und beschwört somit einen Unfall geradezu herauf. Dieser weitverbreitete Aberglaube erklärt auch, warum in der Volksrepublik nach wie vor viele Motorradfahrer selbst im größten Verkehrschaos ohne Helm unterwegs sind.
Nicht so in Kaiping. In und um die 680.000-Einwohnerstadt auf halbem Weg zwischen Guangzhou, dem Hauptort der Provinz Guangdong, und dem Spielerparadies Macao wird Sicherheit ganz offensichtlich großgeschrieben – und das nicht erst seit gestern. So selbstverständlich für meinen Taxifahrer das Anschnallen und für die unzähligen Motorrad- und Rollerfahrer das Helmtragen heute ist, war für die Kaipinger bis zum Einmarsch der Japaner im Jahr 1937 der Bau eines Wehrturms. Gleich zu Hunderten ragen diese sogenannten „Diaolou" aus den Reisfeldern um Kaiping. Mit ihrem teils extravaganten Baustil passen sie genauso wenig in die Landschaft wie ein chinesischer Tempel in die Schweizer Alpen.
Palastartige Verliese
Viele „Diaolou" wirken auf den ersten Blick wie zwei überdimensionale Lego Duplo-Bausteine, die versehentlich falsch zusammengesetzt wurden: Das dicke Mauerwerk unten mit den vorgeschobenen Gittertüren und den metallenen Fensterläden mahnt an das Verlies einer mittelalterlichen Burg. Und auch die verspielten, leicht überhängenden Dachterrassen mit ihren Arkaden und säulenartigen Geländern erinnern eher an einen italienischen Renaissance-Palazzo als an ein chinesisches Bauernhaus. Innen hingegen sind die außen teilweise pompösen „Diaolou" recht spartanisch eingerichtet: Da und dort einige Möbel, Holzbetten ohne Matratzen mit Schmuckkästchen als Kissen, und Fußböden ohne Teppiche. Nicht so recht in dieses Bild passen die eingerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden, die modernen Deckenlampen, die aufwendig gestalteten Ahnenaltäre oder auch die diversen Luxusgüter aus dem Westen wie Standuhren, Grammofone und Parfümflaschen.
Wer also waren die Bewohner dieser heute zumeist leer stehenden Türme, die sich zwar gerne im westlichen Anzug mit Krawatte ablichten ließen, die Nächte aber bevorzugt wie Bauern auf harten Holzpritschen verbrachten? Und wie fand der westliche Baustil seinen Weg ins chinesische Hinterland?