Als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 auf dem Tian'anmen, dem "Tor des himmlischen Friedens", die Gründung der Volksrepublik China ausrief und die rote Fahne mit den fünf Sternen gehisst wurde, war Lin Li noch ein kleines Mädchen. Zwei Jahre zuvor brachte sie ihre Mutter, eine Journalistin beim Militär, während eines Kriegseinsatzes zur Welt.
"Ich wurde in einer Kirche geboren. Die Kirche war damals zum Feldlazarett der chinesischen Volksbefreiungsarmee umfunktioniert. Kurz nach meiner Geburt wurde die Kirche bei einem Bombardement zerstört. Glücklicherweise habe ich überlebt."
Im Dorf Guandi, das 60 Kilometer vom Tian'anmen-Platz entfernt liegt, war damals ein elfjähriger Junge namens Li Mingcai fasziniert von den in der Stadt abgefeuerten Salutschüssen. Der mittlerweile 71 Jahre alte Mann kann sich noch gut an den Einmarsch der Truppen in die Stadt erinnern.
"Die Volksrepublik China wurde gegründet! Damals herrschte überall große Aufregnung. Mit Paraden und einem Marsch wurde die Gründung des neuen China gefeiert."
Damals wußten beide noch nicht, dass dieser Moment für das Land, in dem gerade Not und Elend herrschten, der Beginn einer neuen Ära sein sollte. Wie Mao Zedong sagte, ist das chinesische Volk von da an aufgestanden.
Vor der Gründung des neuen China hatten chinesische Bauern fast kein eigenes Ackerland. Um überleben zu können, mussten die Bauern Ackerland von einem Grundherrn pachten und darauf ihre Feldarbeit verrichten. Der Großteil der Ernte musste an den Grundherren abgegeben werden. Die Familie von Li Mingcai hatte allerdings überhaupt kein Ackerland und war so arm, dass sie oft hungern mussten:
"Damals konnte ich mich nie sattessen. Meine Familie hatte einen Esel, mit dem wir Produkte aus den Bergen in die Stadt transportierten und sie dort verkauften. Mein Vater war Knecht, und mit seinem Einkommen konnten wir Getreide kaufen. Damals hatten wir keine Wohnung, nur eine kleine Hütte, in der wir nebeneinander sitzend schlafen mussten."
Nach der Gründung der VR China hatte Li Mingcai wieder Hoffnung geschöpft. Zwischen dem Winter 1950 und dem Frühjhar 1953 wurde die größte Bodenreform der chinesischen Geschichte durchgeführt. Mehr als 300 Millionen landlose Bauern bekamen gratis Ackerland, insgesamt wurden über 46 Millionen Hektar aufgeteilt. Zudem erhielten sie weitere Produktionsgüter. Der jährliche Pachtzins an die Grundherren, der insgesamt über 35 Millionen Tonnen betrug, wurde erlassen. Li Mingcai erinnert sich gut daran, dass seine Familie zirka 0,3 Hektar Ackerland, ein Rind und ein paar Gebrauchsartikel des täglichen Lebens erhalten hat. Die Familienangehörigen seien begeistert gewesen:
"Unsere Familie bekam ein großes schwarzes Rind. Ein Rind ist sehr nützlich. Es kann bei der Feldarbeit eingesetzt werden und produziert Dünger."
1952 ist der Getreideertrag in China gegenüber 1949 um zirka 43 Prozent gestiegen. Beim Frühlingsfest, dem traditionellen chinesischen Neujahr, wurden überall in den Dörfern Feuerwerke abgebrannt sowie mit Gong- und Trommelschlägen gefeiert. Li Mingcai erinnert sich noch daran, dass die Nachbarfamilien Jiaozi kochten, und alle, ob alt oder jung, ein köstliches Essen genossen.
Allerdings war die Feldarbeit damals noch vollständig vom Wetter abhängig. Die Bauern hatten Angst vor einer Dürre oder vor Überschwemmungen. 1958 wurde daher im Kreis Huairou mit dem Bau eines Stausees mit einem Fassungsvermögen von 100 Millionen Kubikmeter begonnen. Auch Li Mingcai beteiligte sich am Bau des Stausees. Weil es keine großen Baumaschinen gab, mussten mehr als 60.000 Arbeiter per Hand und nur mit Schubkarren mehr als zwei Millionen Kubikmeter Steine, Erde und Beton transportieren.
"Damals setzten sich die Leute voller Leidenschaft und mit aller Kraft dafür ein. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sogar in der Nacht! Per Lautsprecher auf der Baustelle wurden die Leute aufgemuntert."
Als Li Mingcai noch auf dem Feld arbeitete, erreichte 1954 Lin Li, die damals in der Stadt wohnte, das Schulalter. Als Beamte waren ihre Eltern sehr beschäftigt, Lin Li und ihre jüngeren Schwester und Brüder verbrachten daher die meiste Zeit im Kindergarten. Ihre Eltern waren oft so beschäftigt, dass sie manchmal keine Zeit hatten, ihre Kinder zur Schule zu begleiten:
"Damals war meine Mutter sehr beschäftigt, sie und mein Vater waren oft im Wechsel auf Dienstreise. Sie haben sogar einmal meinen Schulbesuch vergessen! Als meine Mutter von einer Dienstreise zurückkam, sagte sie, ich solle an dem Tag zu Hause bleiben. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass ich ja im Schulalter sei, und sie ging mit mir sofort zur Schule."
Später verstand Lin Li, warum ihre Mutter oft so wenig Zeit für sie hatte. Damals befand sich China in der Schlüsselphase des ersten Fünfjahresplans für die Entwicklung der Volkswirtschaft und der Gesellschaft. In der VR China, in der gerade der Korea-Krieg mitverfolgt wurde, nahm man die Notwendigkeit zum Aufbau eines eigenen Industriesystems zur Kenntnis. Die rasche Wiederbelebung der Volkswirtschaft legte dafür die Grundlage. Angesichts dieser Voraussetzungen wurde 1953 der erste Fünfjahresplan in China verkündet mit dem Ziel, die Industrialisierung zu fördern.
Lin Lis Mutter arbeitete damals im Eisenbahnministerium. Sie war für die Außenverbindung für die von der ehemaligen Sowjetunion unterstützten Industrieprojekte mitverantwortlich, beispielsweise für den Bau der Yangtse-Brücke in Wuhan.
"Meine Mutter war damals verantwortlich dafür, sowjetische Experten zu kontaktieren und Dienstreisen zu planen. Ich erinnere mich noch daran, dass meine Mutter damals sehr beschäftigt war. Sie hatte keine Zeit, sich zu Hause um mich zu kümmern, also nahm sie mich mit zur Arbeit."
Trotz zahlreicher Schwierigkeiten haben die Menschen in China mit großem Mut und voller Entschlossenheit die auffallenden Aufbausleistungen erreicht. Vor der Gründung der VR China gab es in dem Land fast keine Schwerindustrie. Die Infrastruktur war sehr rückständig. Einige Jahre nach der Umsetzung des ersten Fünfjahresplanes waren mehrere schwerindustrielle Standorte entstanden. Zahlreiche Straßen, Eisenbahnlinien und Brücken wurden errichtet. Der Bau des ersten Fahrzeugs, des ersten Flugzeugs und der erste Brücke über dem Yangtse - jeder Fortschritt begeisterte die Chinesen!
Der noch jungen Volksrepublik mangelte es allerdings an Entwicklungserfahrung. Die Menschen hatten es in großem Arbeitseifer eilig, Armut und Rückständigkeit in dem Land zu beseitigen. Die Schmelzöfen liefen auf Hochtouren, und in den Fabriken donnerten die Maschinen.
Ende 1958 wurde der Huairou-Stausee fertiggestellt. Als Li Mingcai anschließend erfuhr, dass in den Fabriken in Beijing Arbeiter gesucht werden, meldete er sich sofort. Er begann eine Ausbildung in der Beijinger Maschinenbankfabrik Nr.2.
"Damals war ich sehr froh. Es gab pro Woche einen Ruhetag, an dem man in die Stadt gehen konnte. Für zwölf Yuan monatlich konnte man in der Kantine gut essen. Und vier Yuan reichten, um sich Zigaretten zu kaufen. Ich kaufte mir einen Arbeitsanzug, den ich das ganze Jahr über tragen konnte."
Nachdem Li Mingcai in der Stadt über ein Jahr lang gearbeitet hatte, kehrte er wieder in sein Heimatdorf zurück. Damals führten einige Bauern dank fleißiger Arbeit bereits ein besseres Leben. Aber durch einen Mangel an Arbeitskräften, aufgrund von Naturkatastrophen oder durch Krankheit gerieten viele auch in Armut. Gleichzeitig löste die Industrialisierung ein Wachstum der Stadtbevölkerung aus, was zu einem rasanten Anstieg der Getreidenachfrage führte.
Um eine "Polarisierung" der ländlichen Gebiete zu vermeiden, und auch um die Getreideversorgung für die städtische Bevölkerung zu gewährleisten, wurden in China zuerst landwirtschaftliche Genossenschaften errichtet. Diese wurden später zu größeren Volkskommunen ausgebaut. Das Ackerland, das während der Bodenreform den einzelnen Bauern gegeben worden war, wurde wieder dem Kollektiv übertragen. Die Bauern aßen in Gemeinschaftskantinen, der einheitliche Ankauf und Absatz von Getreide, Speiseöl und Baumwolle durch den Staat wurde landesweit praktiziert. Der freie Handel von Agrarprodukten wurde den Bauern verboten. Wegen der übermäßig konzentrierten Verwaltung, dem einseitigen Absatz und der absolut gleichberechtigten Verteilung verloren die Bauern die Eigeninitiative in der Produktion. Li Mingcai sagt, die Leute seien dadurch „schlau" geworden.
"Die gesamte Bodenfläche gehörte dem Kollektiv. Die Bauern verrichteten zusammen die Feldarbeit. Damals waren die Erträge sehr niedrig, etwa 100 bis 200 Jin (zirka 50 bis 100 Kilo) pro Mu (15 Mu = 1 Hektar). Die Bohnenernte brachte zirka 100 Jin pro Mu."
Der Mangel an Agrarprodukten wie Getreide wurde immer größer. Ab 1959 wurde China in drei Jahren hintereinander von Naturkatastrophen heimgesucht. Das Leben der Bauern wurde mehr und mehr erschwert. Und Li Mingcai konnte keine neue Arbeit in der Stadt finden:
"Damals wurde die Arbeit von den zuständigen Behörden zugeteilt. Der Kreis übergab zum Beispiel die Aufgaben den Volkskommunen. Konnte man sich selbst eine Arbeit suchen? Nein, so was war damals nicht erlaubt."
Wie Li Mingcai hat auch Lin Li bleibende Eindrücke von den Naturkatastrophen zwischen 1959 und 1961. Der ständige Rückgang des Getreideertrags führte schließlich zu einer Hungersnot. Selbst in der Hauptstadt Beijing mangelte es an Waren. Die Nahrungsmittelversorgung wurde knapp. Die Beijinger Stadtverwaltung hatte beispielsweise keine andere Wahl als Bezugscheine für Getreide zu drucken. Je nach Alter und Beruf bekam man eine bestimmte Ration an Getreide zugeteilt. Später wurden auch Bezugscheine für andere Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände ausgegeben.
Die chinesische Bevölkerung, die eine schwierige Zeit zu überstehen hatte, benötigte dringend ein geistiges Idol. Lei Feng, ein Soldat der Volksbefreiungsarmee aus der Provinz Hunan, kam bei einem Unfall ums Leben. Er wurde aufgrund seiner großen Verdienste zu einem Vorbild für die Chinesen. Am 5. März 1963 schrieb Mao Zedong die Widmung „Lernt vom Genossen Lei Feng". Eine entsprechende Bewegung namens „Lernen von Lei Feng" wurde umgehend umgesetzt, sein selbstloser Einsatz munterte zahlreiche Jugendliche auf, auch Lin Li:
"Damals waren die Leute sehr selbstlos. Alle hatten eine starke politische Leidenschaft. Egoistische Ideen hatte man natürlich auch, aber niemand wagte es, diese zu offenbaren."
1966 war ein nervenstrapazierendes Jahr für alle Chinesen. In diesem Jahr wurde die Kulturrevolution eingeleitet. Das Land wurde in ein rotes Meer verwandelt. Unter diesem starken politischen Sturm sowie aufgrund eines fanatischen Personenkults änderte sich das Schicksal der meisten Chinesen. So wurde beispielsweise die Aufnahme in die Hochschule eingestellt. Lin Li, die ursprünglich Fremdsprachen studieren und Diplomatin werden wollte, verlor dadurch ihre Chancen und Möglichkeiten:
"Eigentlich sollten wir 1966 die Mittelschule abschließen. Allerdings gingen wir erst 1967 noch in Schulen herum. Wir wußten nicht, was wir tun sollten, die Hochschulen wurden geschlossen. Viele durften wegen der Familienherkunft nicht Armeeangehörige werden. Die Behörden wurden geschlossen, nur die Bauern machten noch ihre Feldarbeit. Also dachten wir, dass die Lösung vielleicht in den ländlichen Gebieten zu finden sei. Zahlreiche Revolutionäre stammten doch vom Land. Daher entschlossen wir uns, aufs Land zu gehen."
Angesichts der Umstände entschieden sich Lin Li und einige ihrer Mitschüler, nach Xishuangbanna in der Provinz Yunnan zu gehen, um dort beim Aufbau einer Kautschukplantage zu helfen.
Es war alles andere als leicht, auf dem Land die revolutionären Ideale zu verwirklichen. Dies erkannte Lin Li schnell nach ihrer Ankunft in Yunnan. Sie wurde, nicht wie viele andere Jugendliche, die der gleichen Aufforderung folgten, aufs Land zu gehen, zu einer sogenannten Produktionseinheit geschickt. Sie landete vielmehr in einer paramilitärischen Einheit, die sich mit der landwirtschaftlichen Produktion in der Provinz Yunnan beschäftigte. Die Lebensbedingungen dort waren äußerst primitiv.
Das paramilitärische Korps in Yunnan war in Kompanien für den Anbau von Reis, Zuckerrohr und Kautschukbäumen eingeteilt. Das Pflanzen und Abernten von Kautschukbäumen war am härtesten. Xishuangbanna befindet sich in der tropischen Zone, und trotz extrem heißen Wetters gab es oft den ganzen Tag für die Einsatzkräfte nichts zu trinken. Trotzdem sollte jedes Mitglied täglich einige hundert Kautschukbäume abernten.
1976 erreichte nicht nur Lin Lis Leben, sondern auch der gesamte Staat einem Tiefpunkt. Die schrecklichen Ereignisse in diesem Jahr warfen China nahezu in den Abgrund: die drei Begründer der Volksrepublik, Zhou Enlai, Zhu De und Mao Zedong, verstarben alle im selben Jahr. Am frühen Morgen des 28. Juli 1976 kam es zudem in Tangshan in der nordchinesischen Provinz Hebei zu einem verheerenden Erdbeben mit einer Stärke von 7,8 Grad auf der Richterskala. Die Industriestadt wurde in ein Trümmerfeld verwandelt und das Erdbeben forderte mehr als 400.000 Tote und Verletzte.
Im Oktober 1976 erschien schließlich eine Art Licht am Ende des Tunnels. Das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas mit Hua Guofeng, Ye Jianying und Li Xiannian an der Spitze ließ voller Entschlossenheit die Mitglieder der Vierer-Bande festnehmen. Diese Maßnahme setzte der zehn Jahre andauernden Kulturrevolution ein Ende und leitete eine historische Wende in China ein.
Zehn Jahre also, nachdem Lin Li aufs Land geschickt worden war, kam es wieder zu einer Änderung ihres persönlichen Schicksals. 1977 ließ die chinesische Regierung die Hochschulaufnahmeprüfung, die elf Jahre zuvor unterbrochen wurde, wieder durchführen. An etlichen Wintertagen 1977 fanden schließlich die langersehnten Prüfungen statt. Landesweit nahmen mehr als 5,7 Millionen Prüflinge daran teil, darunter auch Lin Li und ihr frisch angetrauter Ehemann.
"Es dauerte eine lange Zeit, bis die Nachricht über die Wiederaufnahme der Hochschulaufnahmeprüfungen in Yunnan ankam. Bis zum Prüfungstag blieben nur noch 40 Tage. Täglich von acht Uhr abends nach der Arbeit bis vier Uhr morgens mussten mein Mann und ich Schulaufgaben wiederholen. Letztendlich belegten wir beide aufgrund unserer Punktezahlen Plätze unter den ersten 60 Prüfungsteilnehmern. Damit wurde ich an der berühmten Peking-Universität aufgenommen."
Am Ende des zweiten Studienjahres von Lin Li fand in Beijing die dritte Plenartagung des 11. Zentralkomitees der KP China statt. Entsprechend den Beschlüssen dieser Plenartagung sollte sich China auf den Aufbau der sozialistischen Modernisierung konzentrieren. Es wurde damals betont, dass die Realisierung der Modernisierung eine umfangreiche und tiefgreifende Revolution sei. Kurz vor der Plenartagung hatten 18 Bauern im Dorf Xiaogangcun nahe Fengyang in der ostchinesischen Provinz Anhui in Tinte ihre Fingerabdrücke auf einem Vertrag hinterlassen, demzufolge jeder für seine eigene Arbeit auf dem ihm zugeteilten Ackerfeld verantwortlich sein sollte. Die Bauern wollten so gegen die herrschende Hungersnot vorgehen.
Die mutige Aktion der 18 Bauern aus Xiaogangcun, das 1.000 Kilometer von der Hauptstadt Beijing entfernt liegt, sollte schließlich auch das Leben von Li Mingcai und das aller Bauern in China ändern.
Im Sommer 1978 litten die Menschen in Fengyang unter einer schweren Dürrekatastrophe. Nach der Sommerernte erhielten die Bauern dort nur weniger als vier Kilogramm Weizen pro Person zugeteilt. Um die drohende Hungersnot zu überstehen, beschlossen 18 Landwirte am Abend des 24. November heimlich, die kollektiven Ackerfelder an die Bauern selbst weiterzugeben. Nachdem das Getreide an den Staat beziehungsweise an das Kollektiv abgegeben worden waren, durften die Bauern die restlichen behalten.
Die Reform in Xiaogangcun führte zur Entstehung des "Systems der vertragsgebundenen Verantwortlichkeit auf Basis der Haushalte". Dank der Unterstützung der damaligen Spitzenpolitiker, darunter Deng Xiaoping, konnte sich dieses System schnell im ganzen Land verbreiten. Der Schlüssel dieser Reform bestand darin, das Verwaltungssystem der Ackerfelder zu reformieren. Die Felder, die früher zu Volkskommunen gehörten, werden seitdem langfristig den Bauern zugeteilt, die für die Feldarbeit selbst Verantwortung tragen sollten. Die Landwirte bekamen auf diese Weise das Recht, die zugewiesenen Ackerfelder selbst zu nutzen. Mit dieser Veränderung ist schließlich die Reform und Öffnung Chinas eingeleitet worden.
Auch die Familie von Li Mingcai bekam ihr eigenes Ackerland zugesprochen. Li entschied sich daraufhin, gewinnbringende Kastanienbäume anzupflanzen.
"Nachdem die Ackerfelder den Bauern zugeteilt worden waren, konnten sie ihre eigenen Ideen umsetzen. Dieses Recht der Bauern durfte niemand verletzen. Man konnte nun alles anbauen, was man wollte. Damals beschäftigte ich mich mit dem Anbau von Obst- und Kastanienbäumen. Die Kastanien konnten zu einem hohen Preis verkauft werden. Dank der Ausfuhrmaßnahmen für solche Produkte zu jener Zeit wurden entsprechende Außenhandelsaktivitäten erhöht. Und in drei Jahren konnten man viele Kastanien ernten!"
Nachdem das Nahrungsmittel- und Kleidungsproblem in China gelöst worden war, versuchten viele Bauern wie Li Mingcai, mehr Geld zu verdienen. Die vielfältigen Formen der Landwirtschaft, beispielsweise Viehzucht, Fischzucht oder Obstanbau, trugen enorm zu einer Steigerung des Einkommens der Landwirte bei.
1982 trat Lin Li nach dem Abschluß ihres Studiums eine Anstellung bei der China Ocean Shipping Company an, welches dem chinesischen Verkehrsministerium untersteht. Ihr Aufgabenbereich waren Entschädigungszahlungen und Seefahrtsversicherungen. 1984 verkündete Deng Xiaoping die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen, nachdem er im Februar des Jahres die südchinesischen Provinzen Guangdong und Fujian bereist hatte. Zudem schlug er vor, mehr Städte nach außen zu öffnen. Im April 1984 beschloss daraufhin der chinesische Staatsrat, 14 Hafenstädte wie vorgeschlagen zu öffnen. In der Folge verzichteten viele Beamte und Wissenschaftler auf ihre Festanstellung und versuchten sich im Wirtschaftsbereich. Auch Lin Li verließ 1986 mit Ende 30 ihren Arbeitgeber:
"1986 erhielt ich die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. Ich gab meinen Job auf und ging zur Fortbildung nach Japan. Ich verkaufte meinen Kühlschrank und bekam dafür 800 Yen. Ich wollte unbedingt raus und die Welt sehen. Ein akademischer Titel war mir eher unwichtig."
Das Studium und das Leben in Japan haben den Horizont von Lin Li erweitert. Vor allem die rasante wirtschaftliche Entwicklung in Japan nach dem Krieg beeindruckte sie sehr.
"Die gesellschaftliche Struktur in Japan war fortschrittlich. Die Japaner lebten in einem gemütlichen Umfeld mit perfekten Dienstleistungen. Ich arbeitete in verschiedenen japanischen Unternehmen, um die innere Struktur und das Arbeitsumfeld in den Unternehmen kennenzulernen."
1990 kehrte Lin Li nach dem Abschluss ihres Studiums in Japan nach China zurück. Sie lehnte die Angebote vieler staatlicher Unternehmen ab und begann in einem ausländischen Unternehmen zu arbeiten. Zwei Jahre später gründete sie ihre eigene Firma. Was die Führung eines Unternehmens betrifft, so hatte sie den Eindruck, dass die Investitionsumwelt in China deutlicht verbessert worden ist:
"Das war ein allmählicher Prozess. Am Anfang wussten die meisten Chinesen nicht, was ein Privatunternehmen ist. Zum Beispiel hat es lange gedauert, dass die Beamten im chinesischen Industrie- und Handelsamt ihre Vorstellungen darüber änderten. Privatunternehmern legte das Industrie- und Handelsamt zahlreiche Hindernisse in den Weg. Erst zehn Jahre später hat das Amt zur Kenntnis genommen, dass Privatunternehmen viele Steuergelder zahlen. Ab diesem Moment hat das Amt begonnen, Serviceaufgaben zu übernehmen."
Deng Xiaoping, der Architekt der chinesischen Öffnungspolitik, sprach in seinen Reden während seine Reise durch Südchina 1992 von Menschen wie Lin Li, die zu den Chinesen gehörten, die einen gewissen Wohlstand erzielten. Der damals 88-jährige Deng Xiaoping hielt in den Städten Wuhan, Shenzhen, Zhuhai und Shanghai eine Reihe von wichtigen Reden über die Reform und Öffnung, in denen er zur Reform der Wirtschaft aufrief.
"Sollte China nicht den Weg des Sozialismus, der Reform und Öffnung, der Wirtschaftsentwicklung und der Verbesserung des Lebens der Bevölkerung gehen, würde das Land keinen Ausweg finden! Man muss daran festhalten, die Wirtschaft weiter zu entwickeln und das Lebensniveau der Bevölkerung zu erhöhen. Erst dann wird die Bevölkerung der Regierung vertrauen und sie unterstützen."
Zwei Jahre nach der Rede von Deng Xiaoping hatte sich Li Mingcais Heimatdorf Guandi zu einem beliebten Ausflugsziel für Touristen entwickelt. Nahe dem Dorf liegt ein zehn Kilometer langes Tal, umgeben von schönen Bergen. Die Menschen dort dachten eigentlich nie daran, dass ihnen die grünen Berge und der klare Fluss einst einmal als Einnahmequelle dienen würden.
Eines Tages verirrten sich aber einmal einige Touristen auf den Hof von Li Mingcai. Seine Tochter Shan Shuzhi half der Gruppe:
"Sie fragten, ob wir ihnen eine Unterkunft anbieten könnten. Ich antwortete: ‚Nein, aber das macht nichts, kommt trotzdem rein.' Neun Leute lagen dann bei uns auf der Kang, einer aus Ziegeln gemauerten, heizbaren Schlafbank. Damals wollte ich ihnen nur helfen und habe nie daran gedacht, Geld zu verdienen."
Dieses Ereignis hat Shan Shuzhi dazu gebracht, ein Hotel zu eröffnen. Wie man solch ein Hotel eigentlich leitet, davon hatte sie allerdings keine Ahnung. Sie ging daher in die Stadt, um zu lernen, wie andere einen Betrieb führen.
Zu Beginn der Geschäftstätigkeit gab es in Shan Shuzhis Hotel nur vier Zimmer mit neun Betten. Dank der wirtschaftlichen Entwicklung in den Städten und auf dem Land waren die Leute bereit, mehr für den Urlaub auszugeben. Ihr Hotel lief mit der Zeit immer besser. Mit dem ersten Gewinn begann Shan Shuzhi, das Angebot zu vergrößern. Ein paar Jahre später besaß sie bereits schon zwei umgebaute große Bauernhöfe, die täglich knapp hundert Touristen empfangen konnten.
2006 wurde in China das "Gesetz über fachliche Landwirtschaftsgenossenschaften" veröffentlicht, mit dem Bauern dazu ermutigt wurden, verschiedene Genossenschaften zu gründen. Shan Shuzhi wurde zur Leiterin der Genossenschaft für Tourismus gewählt. Unter ihrer Leitung wurden Regeln für die Preisgestaltung, die Zimmerausstattung, das Sanieren der Häuser und die Qualität der Verpflegung ausgearbeitet.
"Wenn der Tourismus eine bestimmte Entwicklungsphase erlangt, reicht es nicht mehr aus, dass die einzelnen Familien ihr eigenes Hotel verwalten. Deshalb haben wir eine Genossenschaft gegründet, der zu Beginn 22 Familien beigetreten sind."
Mittlerweile kommen in das Dorf jährlich mehr als 5.000 Touristen. Das Nettoeinkommen beträgt über 100.000 Yuan RMB. Dem Beispiel von Shan Shuzhi folgend, bieten nun rund 80 Prozent der Haushalte in ihrem Dorf Dienstleistungen für Touristen an. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei mehr als 10.000 Yuan RMB. Die einst arme Dorfbewohner in Guandi sind nun auf dem Weg zu finanziellem Wohlstand.
Li Mingcai ist froh, dass seine Tochter so tüchtig ist. Er hat große Hoffnungen auf die Zukunft. Seit einigen Jahren bemüht sich die Regierung, die Kranken- und Altersversicherung auf dem Land zu verbreiten. Das habe ihn sehr beruhigt, sagt Li:
"Mit 280 Yuan RMB kann man der Krankenversicherung beitreten. Für ambulante Behandlungen bekommt man 300 Yuan zurückerstattet, und bei stationären Behandlung erhält man 40 bis 50 Prozent der Gesamtkosten zurück."
Lin Li und Li Mingcai stehen beispielhaft für mehrere hundert Millionen Chinesen, deren Schicksal in den vergangenen sechs Jahrzehnten mit der Entwicklung der VR China eng verbunden war. Was die Zukunft betrifft, so blicken die, die mit der Entwicklung der Volksrepublik viele Chancen aber auch Schwierigkeiten zu durchleben hatten, guten Zeiten entgegen.