Jedes Jahr überquert mit dem Monsun Feuchtigkeit in Form von Wasserdampf das Himalaya-Gebirge und zieht entlang des Yarlung Zangbo-Flusses in den Nanyi-Graben im Kreis Milin im Bezirk Lynchi. Der Nanyi-Graben ist aufgrund der Kombination aus geographischen und klimatischen Bedingungen eine wahre Schatzkammer an seltenen und wertvollen Heilkräutern. Der Überlieferung zufolge meditierte, Yutog Gonpa, Urvater der Tibetischen Medizin, an seinem Lebensabend in dieser Gegend und stellte verschiedene Heilmittel zusammen. Das tibetische Lehrbuch "Medizinklassiker mit vier Bestandteilen" wurde ebenfalls an Ort und Stelle vollendet. Der Nanyi-Graben ist nicht nur in der Überlieferung, sondern auch in der Realität ein bedeutender Ort der Tibetischen Medizin. Die Bewohner dort glauben fest an die Wirkung dieser Heilmethode. Sollten sie irgendein gesundheitliches Problem haben, dann gehen die Menschen zu ihrem Dorfarzt, einem alten Mann namens Renchin Pingtso. Er wird auch "Anjira" genannt, das heißt auf Chinesisch "alter tibetischer Arzt". Und diesen "Anjira" beziehungsweise Renchin Pingtso wollen wir Ihnen heute näher vorstellen!
Als wir bei Renchin zu Besuch sind, tastet er gerade den Puls einer tibetischen Frau ab, die etwas geschwächt wirkt. Der Ehemann der Patientin steht dabei und sagt:
"Wir respektieren die Ärzte sehr. Die Ärzte der Tibetischen Medizin haben ihre Ausbildung in den Klöstern erhalten. Wir einfache Leute haben natürlich Respekt gegenüber Leuten, die sich mit der Tibetischen Medizin auskennen. Es wurden viele dieser Mediziner in Klöstern ausgebildet. Es gibt auch viele Mönche, die sich mit der Tibetischen Medizin beschäftigen."
Seine Behandlungskünste hat Renchin Pingtso jedoch nicht in Klöstern, sondern von seinem Vater gelernt. Er ist der Nachfolger der achten Generation einer tibetischen Ärztefamilie in Chamdo in Osttibet. Aus Respekt vor dem Urahn der örtlichen Heilkräuterkunst, Yutog Gonpa, und wegen des bedeutenden Namens des Grabens siedelte der Vater in die Region über und übte seinen Beruf als Mediziner aus.
Die Bestandteile der Tibetischen Medizin setzten sich vor allem aus Mineralien sowie Tier- und Pflanzenteilen zusammen. Die Familie von Renchin versteht es besonders gut, mit den unterschiedlichsten Pflanzen Krankheiten zu heilen. Die enorme Anzahl an Heilkräutern im Nanyi-Graben ist für ihre Wirkung besonders bekannt. Renchin erklärt, sein Vater habe ihm bereits in der Kindheit Wissen über die Tibetische Medizin beigebracht und gehofft, dass er die seit Generationen in der Familie überlieferte Kunst der Behandlung von Krankheiten fortführen könne:
"Schon im Alter von sechs Jahren brachte er mir Kenntnisse bei. Morgens um sechs Uhr wurde ich geweckt. Mir wurde beigebracht, wie man den Puls tasten soll und alles andere. Ich musste das Beigebrachte auch auswendig lernen. Es gab unheimlich viele Dinge, die ich auswendig lernen sollte. Wenn ich es nicht konnte, bekam ich Schläge. "
Unter der Anleitung des Vaters begann Renchin schon in sehr jungen Jahren mit der Ärztetätigkeit. Da einige Bestandteile von tibetischen Heilmitteln sehr teuer waren, konnten sich viele Patienten zwar den Arztbesuch leisten, nicht aber die Medizin. So verzögerte sich oft die Behandlung. Renchin dachte damals, er müsse mehr Rezepturen mit häufig verwendeten, billigeren Heilkräutern beherrschen. Doch im Kreise der damaligen tibetischen Ärzte wurden Rezepte als Familienerbe und besonderes Geheimnis betrachtet und üblicherweise nicht an Dritte weitergegeben.
1959 errichtete die lokale Verwaltung eine Reihe von Schulen und Krankenhäuser für Tibetische Medizin. Renchin erhielt die Gelegenheit, drei Jahre an solch einer Schule zu lernen. Sein Wissen und seine medizinischen Fähigkeiten stiegen dadurch enorm. Zudem hatte er dort auch Zugang zu zahlreichen Heilkräuterrezepten.
Da habe die Regierung eine große und gute Tat vollbracht, mit der allen Tibetern das Tor zur Tibetischen Medizin geöffnet worden sei, meint Renchin heute. Denn im altem Tibet konnten sich nur Kinder aus reichen Familien das Studium der Tibetischen Medizin leisten.
"Um Tibetische Medizin zu erlernen, braucht man normalerweise über zehn Jahre. Die Bestandteile wie Tierknochen, Bärengalle oder Moschus sind zudem sehr teuer. Wenn man finanziell nicht dazu in der Lage ist, kann man sich so eine Ausbildung nicht leisten."
Nach seinem Abschluss an der Medizinschule kehrte Renchin in seine Heimatregion zurück und arbeitete in der medizinischen Einrichtung vor Ort. Dort sah er dann auch zum ersten Mal Schulmediziner mit weißem Kittel, einem Stethoskop um den Hals und Injektionsnadeln in den Händen. Renchin war damals noch der Meinung, dass nur die Tibetische Medizin der Bevölkerung Gesundheit und Glück bringen könne. Über die Behandlungsweisen und Mittel der Schulmediziner wollte er nichts wissen. Erst 1970, als in einem abgelegenen Bergdorf Masern auftraten und er mit diesen Kollegen dort Patienten behandelte, lernte er, die Schulmedizin objektiv zu betrachten:
"Die Tibetische Medizin wirkt langsamer, die Schulmedizin hingegen schneller. Eine einzige Tablette kann manchmal innerhalb von zehn Minuten schon ein Leiden lösen. Besonders bei der Schmerzlinderung wirken Medikamente sehr gut. Aber bei der Behandlung von chronischen Krankheiten ist die Tibetische Medizin vorteilhafter. "
Der Bezirk Lynchi ist wegen des Einflusses des Monsunklimas reich an Pflanzenarten und daher ein wichtiger Standort für den Anbau von Heilkräutern. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet die lokale Arzneifabrik Qizheng intensiv daran, mit modernster Extrahierungs- und Verpackungstechnik Fertigpräparate entsprechend der Tibetischen Medizin herzustellen. Renchin Pingtso und eine Reihe alter Doktoren sind als Berater engagiert. Sie sollen die Wirkung der Fertigpräparate überprüfen.
Jeden Juli schmelzen in der Region Lynchi die Gletscher auf den umliegenden Bergen. Es ist die beste Jahreszeit, um Heilpflanzen zu sammeln. Renchin Pingtso geht dann oft in die Berge und trägt jedes Mal eine Kiepe voller Heilkräuter zurück nach Hause. Mit diesen Heilkräutern behandelt er dann seine Mitbürger. Die über 4.000 Meter hohen Berghänge sind für ihn so vertraut wie sein eigener Garten im Hinterhof. Bei ihm zu Hause zeigt er dann auch zwei Heilpflanzen, die er auf Bergen gepflückt hat:
"Dieses heißt Ran Nie. Die Wurzeln können als Arznei verwendet werden. Im Juni oder Juli gräbt man sie aus, die Wurzeln wirken gut gegen Rheuma. Sie wachsen nur auf hohen Bergen. Das da ist auch ein Heilmittel, es kann den Blutdruck senken. Normalerweise gehen wir für zwei, drei Tage in die Berge, jeder trägt dann bis zu 30 Kilogramm Heilpflanzen zurück."
Seit einigen Jahren ist Renchin allerdings sehr in Sorge, denn seine Heilkunst und sein Wissen will in seiner Familie niemand erben. Sein älterer Sohn Dorji arbeitet in einer Reiseagentur, die Tochter Yixi studiert zwar in Lhasa Medizin, aber die westliche. Er versteht die Wahl der Kinder, aber er bedauert es schon ein bisschen und wünscht sich daher einen Enkelsohn, dem er sein Wissen weitergeben kann:
"Der jüngere Sohn hat die Mittelschule abgeschlossen. Er möchte Soldat werden. Ich habe gehofft, dass er Tibetische Medizin lernt. Aber er will nicht. Da kann man ja nichts tun! Die Enkelkinder sind alle Mädchen. Wenn ich einen Enkelsohn habe, möchte ich ihn bestimmt gut ausbilden. Männer sind geeigneter, Tibetische Medizin zu lernen. "
Der über 60-jährige Vater führt in den Augen seiner Kinder vielleicht kein angenehmes, gemütliches Leben, da er noch jedes Jahr auf hohe Berge klettert und Heilpflanzen pflückt. Aber in den Augen der Menschen im Nanyi-Graben ist der weißhaarige Arzt sowohl traditionell als auch offenherzig. Seine barmherzige Art und die Heilkunst sichern ihm die Stellung als bester "Anjira".
Gesprochen von: Xiao Lan, Lu Ming
Interview und Text von: Tian Ye