Die Hauptstadt Heilongjiangs, Harbin, wäre wohl kaum das, was sie heute ist ohne ihre jüdischen Bewohner, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die Stadt kamen. Sie waren ausschlaggebend für den schnellen wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt. Viele der Geschäfte in der berühmten Zhong Yang Dajie – Zentralstraße Harbins wurden vor allem von jüdischen Geschäftsleuten betrieben. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts lebten etwa 20.000 Juden in Harbin. Viele von ihnen kamen aus Russland oder flüchteten vor den Nazis in Deutschland. Zu dieser Zeit waren es die Ausländer, die vorwiegend das Stadtbild Harbins bestimmten. Von den etwa 300.000 Bewohnern waren nur etwa 125.000 Chinesen. Dies ist auch noch heute in der Architektur deutlich zu sehen. Erhalten geblieben sind auch die direkten Überbleibsel der jüdischen Lebenswelt Harbins. Die neue und alte Synagoge der Stadt haben quasi die Zeiten des Wandels nahezu unbeschadet überstanden. Die neue Synagoge wurde, zehn Jahre nach Fertigstellung der alten Synagoge, im Jahre 1917 gebaut. Heute ist das ehemalige Gotteshaus ein Museum über die jüdische Geschichte der Stadt. Nach dem Betreten der Synagoge begrüßt den Besucher in der ersten Etage eine riesige Menorah (siebenarmiger Kerzenleuchter). Über zwei Etagen kann man dann die Geschichte der jüdischen Bevölkerung anhand tausender Fotos, zahlreicher Möbel und Alltagsgegenstände nachzeichnen. Von der Domkuppel hängt noch der riesige originale Kristallkronenleuchter von mehreren Metern Durchmesser. Doch insgesamt lässt es sich nur schwer erahnen, wie die Juden in dieser Synagoge vor etwa 90 Jahren gebetet und geheiratet haben. Die jüdische Geschichte der Stadt scheint auch insgesamt von relativ wenig Interesse in Harbin. Eine Angestellte des Museums sagt, im Durchschnitt kämen fünf bis zehn Besucher am Tag. Dabei arbeiten gleichzeitig zehn Mitarbeiter im Museum.
Nicht weit von der neuen Synagoge kann man auch die alte Synagoge der Stadt finden. Nach vier Minuten Fußweg an der ehemaligen jüdischen Suppenküche vorbei (heute ein Steuerbüro) erreicht man das ehemalige Gotteshaus. Der Davidstern ist noch deutlich überall in den Fenstern und Ornamenten des Kuppelbaus zu erkennen. Doch gebetet wird hier schon lange nicht mehr. Nur eine Gedenktafel erinnert an die längst verflossenen Zeiten. Heute findet man in der ersten Etage ein Cafe und ein Geschäft mit indischem Kunstschmuck. Der Rest des Gebäudes hat eine Jugendherberge in Beschlag genommen. Einen Steinwurf entfernt von der alten Synagoge findet man ein weiteres Überbleibsel jüdischer Geschichte – die alte Schule. Das Gebäude ist auch noch heutzutage eine Schule. Doch jüdische Kinder haben hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr die Schulbank gedrückt. Die meisten Juden sowie das jüdische Leben verließen Harbin während des zweiten Weltkriegs. Obwohl sie weiter nach Israel, Australien oder etwa den Vereinigten Staaten zogen, sind aber ihre Hinterlassenschaften noch überall in Harbin zu finden.
Text: Michael Koliska