Text und Fotos: Simon Gisler
Jedes Jahr besuchen Heerscharen von Touristen die Gräber der chinesischen Kaiser außerhalb von Beijing. Nicht weniger lang ist in der Regel die Warteschlange vor der Gedenkhalle des "Großen Vorsitzenden" Mao Zedong auf dem Tiananmen im Herzen der chinesischen Hauptstadt. Vom Tourismus noch weitgehend unberührt ist hingegen der Jesuitenfriedhof einige U-Bahnstationen entfernt.
Der sogenannte "Zhalan Mudi" (栅栏墓地) liegt etwas außerhalb des ehemaligen westlichen Stadttores im Innenhof einer Kaderschule der Kommunistischen Partei (Beijing Shiwei Dangxiao 北京市委党校). Im Schatten von Bäumen und umringt von einer mit Efeu bewachsenen Blocksteinmauer stehen die teilweise fast zwei Meter hohen Grabsteine von 63 Jesuiten, die vom 16. bis 19. Jahrhundert am Hof des chinesischen Kaisers tätig waren. Nach "hello, hello, luki, luki" schreienden Souvenirhändlern und dem Blitzlichtgewitter von Touristengruppen sucht man hier vergebens. Die letzte Ruhestätte der Jesuiten ist eine Oase der Ruhe inmitten des Beijinger Großstadtdschungels.
Neben chinesischen Jesuiten sind auf dem "Zhalan Mudi" auch einige der berühmtesten abendländischen Gelehrten begraben, die China je besucht haben. Sie stammen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Portugal, der Schweiz, Slowenien und der Tschechischen Republik.
Der bekannteste dieser europäischen Missionare ist zweifellos der italienische Jesuitenpater Matteo Ricci (1552-1610). Der studierte Jurist begann seine Mission, das Christentum nach China zu bringen, 1582 in Macao. Nach fast 20-jähriger Tätigkeit als Missionar, Literat, Geograf und Astronom in Zhaoqing, Nanchang, Suzhou und Nanjing, erlangte Ricci knapp 20 Jahre später die Gunst des Kaiserhofes in Beijing - nicht zuletzt auch wegen seiner Wertschätzung der chinesischen Kultur. Li Madou (利玛窦), so sein chinesischer Name, beherrschte nicht nur die chinesische Sprache in Wort und Schrift, sondern kleidete sich auch gerne wie ein chinesischer Gelehrter. Den Kaiser zum Christentum zu bekehren, gelang aber weder ihm noch seinen Nachfolgern.
Das Grab von Li Madou
Dafür ist Ricci heutzutage sowohl in Ost als auch West als "erster Vermittler zwischen der europäischen und chinesischen Kultur" bekannt. Der gebürtige Italiener erstellte die erste Weltkarte auf Chinesisch und übersetzte eine Vielzahl von wissenschaftlichen und religiösen Werken aus Europa ins Chinesische. Durch seine Übersetzung konfuzianischer Klassiker ins Lateinische ermöglichte er den Europäern umgekehrt erstmals einen systematischen Einblick in die chinesische Kultur. Gemäß dem Vize-Vorsitzenden der chinesischen Matteo-Ricci-Vereinigung, Yu Sanle, gehört der erste China-Missionar heute sogar zum Unterrichtsstoff an den Oberschulen Chinas. Wie Ricci sollen die jungen Chinesen fremden Kulturen offen begegnen und von ihnen lernen, so Yu.
Geradezu verehrt wird Ricci von den chinesischen Katholiken. Für sie gehört eine Pilgerreise an sein Grab auf dem "Zhalan Mudi" zur Pflicht: einerseits "weil es ohne ihn heute keine katholische Kirche in China gäbe", andererseits "weil er China sein Leben gewidmet hat", betont der Leiter einer Pilgergruppe aus dem südlich von Shanghai gelegenen Ningbo.
Das Grab von Li Madou
Als Dank für sein Wirken am Hof erhielt Ricci vom chinesischen Kaiser nach seinem Tod im Jahr 1610 die Grabstätte auf dem "Zhalan Mudi" zugewiesen. Der Grabstein des italienischen Missionars überragt alle anderen und ist auf einen kleinen Torbogen ausgerichtet. Im Grundaufbau unterscheidet er sich allerdings nicht von den Grabsteinen seiner Mitbrüder. Er enthält eine Würdigung in lateinischer und chinesischer Sprache. Der obere Teil des Grabsteins zeigt ein Relief, das aus westlichen und östlichen Elementen besteht: als Symbol des Kaiserreichs zwei Drachen, die mit einer Perle, einem buddhistischen Symbol für Glück, spielen. Umgarnt von den beiden Drachen ist das christliche Kreuz mit dem Jesuitenmonogramm IHS (Iesum Habemus Socium = Wir haben Jesus als Gefährten).
Neben Ricci begraben liegen der Deutsche Johann Schall von Bell (1592-1666) und der Belgier Ferdinand Verbiest (1623-1688). Beide hatten die einflussreiche Position des Leiters des Kaiserlichen Astronomischen Amtes inne. In dieser Funktion trugen sie massgeblich zur Reform des chinesischen Kalenders bei, die für die Machtlegitimation des Kaisers unverzichtbar war. Auf den Rheinländer Schall von Bell geht zudem der Bau der Beijinger Südkirche zurück, die heute noch steht. Alle drei ehemaligen Vorsteher der Jesuitenniederlassung in Beijing sind auf mehreren Briefmarken verewigt.
In China gar verfilmt wurde das Leben des Jesuitenmissionars und Hofmalers Giuseppe Castiglione (1688-1766), der einige Meter vom Grab seines Landsmannes Ricci begraben liegt. Die westlichen Maltechniken, die der gebürtige Mailänder in China einführte, wirken bis heute nach. Noch immer kommen Kunststudenten in China nicht umhin, sich mit seinen Werken, die zum Teil im Beijinger Palastmuseum ausgestellt sind, auseinanderzusetzen.
Für geschichtlich Interessierte ist der Jesuitenfriedhof eine wahre Fundgrube. Ein abschliessendes Beispiel hierfür ist der Grabstein des in seiner Heimat praktisch unbekannten Franz Stadlin (1658-1740). Für das Begräbnis des Uhrmachers aus der Schweiz machte der chinesische Kaiserhof nicht weniger als 200 Unzen Silber und zehn Ballen Seide locker, wie aus der Grabinschrift hervorgeht. Die im Jahr 2006 gegründete Schweizer Uhrenfirma "Stadlin" beruft sich explizit auf den ehemaligen "Kaiserlichen Hofuhrmacher" aus Zug.
Dass es den "Zhalan Mudi" überhaupt noch gibt, grenzt an ein kleines Wunder. Gleich zweimal wurde der Friedhof das Opfer von Verwüstungen. Das erste Mal während dem Boxeraufstand im Jahr 1900. Die meisten der teilweise zerstörten und auf dem Gelände herumliegenden Grabsteine wurden danach eingesammelt und in die Außenwände einer nahe gelegenen Kirche eingelassen. Während der Kulturrevolution konnten die Grabsteine von Ricci, Schall von Bell und Verbiest nur vor der Zerstörung durch die Roten Garden gerettet werden, indem sie im Boden vergraben wurden. 1979 schliesslich wurde mit der Renovation des Friedhofs begonnen. Fünf Jahre später konnte der neu renovierte Friedhof der Missionare aus der Ming- und Qing-Dynastie wieder eröffnet werden. Seit 2006 steht er unter nationalem Denkmalschutz.
Nach wie vor aber führt der „Zhalan Mudi" ein Schattendasein. Im Hinblick auf den 400. Todestag von Matteo Ricci im Jahr 2010 soll sich das ändern. Um in Zukunft mehr Touristen anzulocken, soll bis Jahresende gegenüber dem Friedhof eine kleine Ausstellung über den italienischen Jesuitenpater eröffnet werden.
Besucherinformationen:
Adresse: Beijing Shiwei Dangxiao北京市委党校/Beijing Administrative College, Chegongzhuang Dajie 6 (10 Gehminuten von der U-Bahnstation Chegongzhuang entfernt)
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 08.00 bis 11.30 Uhr / 14.00 bis 17.00 Uhr, Samstag und Sonntag geschlossen. (Zur Öffnung der Friedhofstore im Büro des Abwarts im Erdgeschoss des Hauptgebäudes melden)
Eintritt: 10 Yuan RMB (inklusive Informationsbroschüre und Gräberverzeichnis auf Englisch)
Kontakt: Herr Yu Sanle (Tel.: 0086-10-68007011 oder 68007279, E-Mail: yusanle@yahoo.com)