Ein bisschen verloren wirkt der alte Wachturm Dongbianmen inmitten der Hochhausschluchten und der vielspurigen zweiten Ringstraße. Viel ist nicht mehr übrig von der altstädtischen Struktur mit ihren verwinkelten Gassen, die hier noch Anfang des 20. Jahrhunderts das Gesicht Beijings prägten. Zeugen einer vergangenen Ära sind lediglich Fragmente der ursprünglichen Stadtmauer im Ming Dynasty Wall Relics Park, wo Dongbianmen im Schatten der Moderne still und relativ unbeachtet von Einheimischen wie Besuchern thront. Das war nicht immer so.
Legation Street – die Gebäude stehen teilweise heute noch
In den 1930ern ist Beijing eine andere Stadt. Wenige Autos befahren die wenigen für Autos geeigneten Straßen. Traditionelle, grau getünchte Hutongs mit ihren roten Türen erstrecken sich soweit das Auge reicht – also bis zum zweiten Ring, denn dort war die Stadt zu Ende. Zwischen den in der Regel einstöckigen Bauten ragen vereinzelt westlich anmutende Häuser hervor. Im Legation Quarter, dem Ausländerbezirk, sind es besonders viele. Dieser Mikrokosmos ist streng bewacht und abgeschottet vom chinesischen Alltag. Dort leben Briten, Franzosen, Amerikaner ihr eigenes, privilegiertes Leben inmitten schicker Hotels, Bars, Clubs und Geschäfte – fast wie in London, Paris oder New York.
Grand Hotel des Wagongs-lits, Beijing um 1900
Die ansässige Kolonialgesellschaft hat nach der Niederschlagung des Boxeraufstands wieder ihren Spaß, gerne auch außerhalb der hohen Mauern ihrer westlichen Legationswelt, in den sogenannten Badlands, dem Ödland, mit Opiumhöhlen, Bordellen, und Unterhaltungsetablissements, frequentiert von eher halbseidenem Publikum. Es sind die letzten Tage eines alten Beijings, vor den Toren stehen die Japaner, Chiang Kai-Shek hat sich in der damaligen Hauptstadt Nanjing verschanzt. Die Stimmung ist angespannt.
Pamela Werner, Studioporträt 1936
Pamela Werner lässt sich wie viele andere in ihrem Alter von den politischen Ereignissen, der zunehmenden Unruhe nicht beeindrucken. Die 19jährige Tochter des ehemaligen britischen Diplomaten und Gelehrten E.T.C. Werner ist in Beijing aufgewachsen, schön und geht gerne aus. Sie genießt die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwird, nicht ahnend, dass Blicke und Einladungen mehr beinhalten können als die bloße Bestätigung für ein junges, naives Mädchen.
E.T.C. Werner
Eines Abends wartet der kauzige Sinologe Werner in seinem Hutong-Haus vergeblich auf die Rückkehr seiner geliebten Adoptivtochter. Jahre zuvor hatte er bereits seine Frau verloren, Pamela bedeutet alles für den alten Mann. Rastlos streift er durch die Nacht, durch die freundlichen und die zwielichtigen Gassen seiner Wahlheimat – keine Spur von Pamela. Finden wird sie in den frühen Morgenstunden eines kalten Januartags ein Rikscha-Träger. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt verraten nur Kleidung, Uhr und flachsfarbene Haare die Identität der Leiche: Die Tote am Fuße des unheimlichen Fuchsturms ist Pamela Werner.
Der Fuchsturm um 1900
Der Fuchsturm 2013